Zur Schutzwürdigkeit des Kindeswohls:
Auch einer verfassungs-, konventions- und unionsrechtlich geschützten familiären Lebensgemeinschaft (hier: sehr kleines Kind mit deutscher Staatsangehörigkeit und drittstaatsangehörige Mutter mit Niederlassungserlaubnis) kommt nicht in jedem Fall ein solches Gewicht zu, dass es sich gegen das schwerwiegende Interesse an der Abwehr von Gefahren durch den Aufenthalt der antragstellenden Person durchsetzt (hier: Wiederholungsgefahr von Straftaten aufgrund der persönlichen Ausgangslage des Vaters).
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
8 Ausländerrechtliche Schutzwirkungen entfaltet Art. 6 GG freilich nicht schon aufgrund formalrechtlicher familiärer Bindungen. Entscheidend ist vielmehr die tatsächliche Verbundenheit der Familienmitglieder. Schutz genießt insbesondere die familiäre (Lebens-)Gemeinschaft zwischen einem Elternteil und seinem minderjährigen Kind, die durch tatsächliche Anteilnahme am Leben und Aufwachsen des Kindes geprägt ist. Bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen, die den Umgang mit einem Kind berühren, ist maßgeblich auf die Sicht des Kindes abzustellen und im Einzelfall zu untersuchen, ob tatsächlich eine persönliche Verbundenheit besteht, auf deren Aufrechterhaltung das Kind zu seinem Wohl angewiesen ist (BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 48). In diesem Zusammenhang kommt es nicht darauf an, ob eine Hausgemeinschaft zwischen dem betreffenden Ausländer und seinem Kind besteht und ob die von ihm tatsächlich erbrachte Zuwendung auch (allein) vom anderen Elternteil oder Dritten erbracht werden könnte (BVerfG, Beschlüsse vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 46 und vom 09.01.2009 - 2 BvR 1064/08 - juris Rn. 15). Vielmehr sind die Belange des Elternteils und des Kindes umfassend zu berücksichtigen (VGH Bad.-Württ., Beschluss vom 06.07.2022 - 11 S 2378/21 - juris Rn. 7). [...]
10 Die Zumutbarkeit einer auch nur vorübergehenden Trennung zwischen einem Elternteil und seinem Kind wird umso eher zu verneinen sein, je mehr davon auszugehen ist, dass hierdurch die emotionale Bindung des Kindes zu diesem Elternteil Schaden nimmt. Ein hohes, gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechendes Gewicht haben die Folgen einer vorübergehenden Trennung insbesondere dann, wenn ein noch sehr kleines Kind betroffen ist, das den nur vorübergehenden Charakter einer räumlichen Trennung möglicherweise nicht begreifen kann und diese rasch als endgültigen Verlust erfährt (BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 48).
11 Die Belange der Bundesrepublik Deutschland überwiegen das durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützte private Interesse eines Ausländers und seines Kindes an der Aufrechterhaltung einer zwischen ihnen bestehenden Lebensgemeinschaft nicht ohne Weiteres schon deshalb, weil der Ausländer vor Entstehung der zu schützenden Lebensgemeinschaft gegen aufenthaltsrechtliche Bestimmungen verstoßen hat, wenn - wie hier - durch das nachträgliche Entstehen der von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG grundsätzlich geschützten Lebensgemeinschaft eine neue Situation eingetreten ist (vgl. BVerfG, Beschlüsse vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 45 und vom 10.08.1994 - 2 BvR 1542/94 - juris Rn. 11). Kann - zur Vermeidung einer mit Blick auf das Wohl des Kindes unzumutbaren Trennungsphase - die Lebensgemeinschaft zwischen einem Ausländer und seinem Kind nur in der Bundesrepublik Deutschland stattfinden, so drängt die Pflicht des Staates, die Familie zu schützen, jedenfalls die einwanderungspolitischen Belange regelmäßig zurück (BVerfG, Beschluss vom 09.12.2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 46; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 23.09.2021 - 11 S 1966/19 - juris Rn. 114 und Beschluss vom 06.07.2022 - 11 S 2378/21 - juris Rn. 10). Dies schließt es allerdings nicht aus, im konkreten Einzelfall sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland Vorrang vor dem Wohl eines Kindes einzuräumen; dies gilt beispielsweise für das sicherheitspolitische Interesse, das Gemeinwesen - wie hier - vor Betäubungsmittelkriminalität und Gewaltdelikten zu schützen. Denn selbst aus einer Zusammenschau von Art. 6 Abs. 1 und 2 GG mit Art. 3, Art. 9 Abs. 1 und Art. 10 Abs. 1 der UN-Kinderrechtskonvention folgt kein Anspruch auf einen voraussetzungslosen Kinder- oder Elternnachzug. Das Kindeswohl ist zwar vorrangig zu berücksichtigen; es genießt aber keinen unbedingten Vorrang (BVerwG, Urteile vom 08.12.2022 - 1 C 8.21 - juris Rn. 20 und vom 13.06.2013 - 10 C 16.12 - juris Rn. 24). Ein solcher ergibt sich aufgrund von Art. 52 Abs. 1 EU-GRCharta auch nicht aus den in Art. 24 EU-GR-Charta verankerten Grundrechten des Kindes (BayVGH, Beschluss vom 28.03.2023 - 19 CE 23.456 - juris Rn. 20 f.; vgl. hierzu auch EuGH, Beschluss vom 15.02.2023 <Bundesrepublik Deutschland/GS> - C-484/22 - Rn. 23 f. <"Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens zu berücksichtigen"> sowie Urteil vom 11.03.2021 <M.A.> - C-112/20 - Rn. 43 f. <"Wohl des Kindes gebührend zu berücksichtigen">; vgl. ferner Kingreen, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, 6. Aufl. 2022, Art. 24 EU-GRCharta Rn. 9).
12 Bei der Würdigung der Zumutbarkeit einer auf einen Elternteil bezogenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme für die Beziehung zwischen Eltern und Kind ist von erheblicher Bedeutung, ob es dem Kind und dem anderen Elternteil möglich ist und zugemutet werden kann, den von der Maßnahme betroffenen Ausländer ins Ausland zu begleiten oder ihm zeitnah dorthin zu folgen. Dies wird umso eher anzunehmen sein, je weniger der Aufenthalt des Kindes und des anderen Elternteils im Bundesgebiet gesichert ist und je weiter die Möglichkeiten der Familie gefächert sind, ihre schutzwürdige Gemeinschaft nach der Ausreise aus dem Bundesgebiet an einem anderen Ort unvermindert fortzuführen. Ersteres betrifft vornehmlich Personen, die selbst vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer sind, Letzteres in erster Linie Mitglieder einer Familie, denen es voraussichtlich rechtlich wie tatsächlich möglich und zumutbar sein wird, gemeinsam oder in überschaubaren zeitlichen Abständen in einen bestimmten anderen Staat einzureisen und dort ihren Aufenthalt zu nehmen. Umgekehrt wird die Zumutbarkeit einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme mit Blick auf Art. 6 Abs. 1 und 2 GG umso eher zu verneinen sein, je stärker der Aufenthalt des Kindes und des anderen Elternteils im Bundesgebiet gesichert ist und je weniger davon ausgegangen werden kann, dass es der Familie nach der Durchführung der Maßnahme möglich und zumutbar wäre, ihre schutzwürdige Gemeinschaft im Ausland unvermindert fortzuführen. Ersteres betrifft vor allem deutsche Staatsangehörige. Letzteres betrifft Fälle, in denen davon ausgegangen werden kann, dass es keinen anderen Staat als die Bundesrepublik Deutschland gibt, in dem es sämtlichen Mitgliedern der durch Art. 6 Abs. 1 und 2 GG geschützten Familie rechtlich und tatsächlich möglich sowie zumutbar wäre, einen gemeinsamen Aufenthalt zu begründen. Im Übrigen ist in Orientierung an den oben aufgezeigten Grundsätzen im jeweiligen Einzelfall zu würdigen, ob die den Mitgliedern der Familie mit einer Ausreise ins Ausland entstehenden Nachteile noch in einem angemessenen Verhältnis zu den einwanderungspolitischen Interessen, Sicherheitsinteressen und sonstigen Interessen der Bundesrepublik Deutschland stehen, denen mit der auf ein Familienmitglied bezogenen aufenthaltsbeendenden Maßnahme Rechnung getragen werden soll. [...]
14 (2) Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union, des Bundesverwaltungsgerichts und des beschließenden Senats kann einem Drittstaatsangehörigen (wie dem Antragsteller) zudem ein unionsrechtliches Aufenthaltsrecht sui generis zustehen, das aus Art. 20 AEUV abgeleitet wird. Die Entstehung eines Aufenthaltsrechts eines Drittstaatsangehörigen aus Art. 20 AEUV setzt voraus, dass ein Unionsbürger dergestalt in einem familiären Abhängigkeitsverhältnis zu dem betreffenden Drittstaatsangehörigen steht, dass er zwingend auf ihn angewiesen ist. [...]
19 bb) In Anwendung dieser Grundsätze und Würdigung der konkreten Gegebenheiten des vorliegenden Einzelfalls ist der beschließende Senat unter Berücksichtigung der vom Antragsteller im ersten Rechtszug sowie im Beschwerdeverfahren glaubhaft gemachten Umstände zu der Auffassung gelangt, dass weder Art. 6 GG noch Art. 8 Abs. 1 EMRK und auch nicht Art. 7 und 24 EU-GR-Charta oder Art. 20 AEUV einer Abschiebung des Antragstellers in sein Herkunftsland entgegenstehen.
20 (1) Der durch Art. 6 GG, Art. 8 Abs. 1 EMRK sowie Art. 7 und 24 EU-GR-Charta vermittelte Schutz der Familie und von nichtehelichen Paarbeziehungen sowie derjenige des Kindeswohls führen im vorliegenden Fall aller Voraussicht nach nicht zur rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung des Antragstellers.
21 (a) Der Antragsteller hat allerdings glaubhaft gemacht, dass er sowohl mit der Mutter seines Sohnes als auch mit diesem selbst Beziehungen pflegt, die nach den vorgenannten Bestimmungen verfassungs-, konventions- und unionsrechtlichen Schutz genießen. [...]
25 Dem Interesse des Antragstellers, seiner Partnerin und ihres gemeinsamen Kindes, in Deutschland eine dem Kindeswohl förderliche familiäre Lebensgemeinschaft zu führen, dürfte im Vergleich dazu deutlich mehr Gewicht zuzumessen sein. Dabei berücksichtigt der beschließende Senat mit Blick auf die oben referierte Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, dass es sich bei dem Sohn des Antragstellers noch um ein sehr kleines Kind handelt, das vermutlich gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 StAG die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt. Außerdem spricht nach Aktenlage viel dafür, dass der Antragsteller nicht nur formal seine Vaterschaft anerkannt hat, sondern sich auch tatsächlich um den Aufbau einer persönlichen Beziehung zu seinem Kind bemüht. Weiter ist in den Blick zu nehmen, dass es den Mitgliedern der Familie nicht zumutbar sein dürfte, die gewünschte familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland zu führen; dem steht bereits der Umstand entgegen, dass der Sohn des Antragstellers wohl deutscher Staatsangehöriger ist und die Mutter des Kindes über einen unbefristeten Aufenthaltstitel für das Bundesgebiet verfügt.
26 Der Senat berücksichtigt aber auch, dass Vater und Kind bislang nur sehr wenig Gelegenheit hatten, eine tragfähige Beziehung zueinander aufzubauen. Zur Zeit der Geburt des Kindes am 24.09.2022 verbüßte der Antragsteller in einer Justizvollzugsanstalt eine Freiheitsstrafe. Bis zu seiner Entlassung aus der Haft am 26.05.2023 bestand für Vater und Sohn in der Regel nur im Monatsrhythmus Gelegenheit, für jeweils etwa eine Stunde unmittelbar miteinander persönlichen Kontakt zu pflegen. Ansonsten war der Kontakt auf die Nutzung elektronischer Medien beschränkt. Angesichts des geringen Alters des Kindes dürften diese Kontakte kaum ausgereicht haben, um eine Basis für eine emotionale Beziehung zwischen Vater und Kind zu schaffen, die so stabil ist, dass die Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet vom Kind schmerzhaft als dauerhafter Verlust einer zentralen Bezugsperson wahrgenommen würde. Umstände, die zumindest Zweifel an dieser Einschätzung aufkommen lassen, hat der Antragsteller im Beschwerdeverfahren nicht vorgetragen. Ebenso wenig deuten die Gesamtumstände darauf hin, dass der Antragsteller vor seiner Entlassung aus der Haft einen prägenden Einfluss auf die Entwicklung und Erziehung seines Sohnes genommen hat und es mit Blick auf das Kindeswohl als schädlich eingestuft werden müsste, die Möglichkeiten des Antragstellers zu weiterer Einflussnahme durch aufenthaltsbeendende Maßnahmen einzuschränken. Soweit der Antragsteller vorträgt, nach seiner Haftentlassung in häuslicher Gemeinschaft mit seinem Sohn und dessen Mutter gelebt zu haben, deutet dies zwar darauf hin, dass sich den - aus Sicht eines Säuglings - wohl eher gelegentlichen Kurzkontakten zwischen Vater und Kind eine circa vierwöchige Phase des engeren, regelmäßigen Kontakts angeschlossen hat. Angesichts des Alters des Kindes und der bekannten Umstände, unter denen der Kontakt gepflegt wurde, dürfte aber auch diese Phase kaum ausgereicht haben, um den Antragsteller nachhaltig in die Rolle einer zentralen Bezugsperson für seinen Sohn zu bringen oder die Annahme zu rechtfertigen, dass die Beendigung des Aufenthalts des Antragstellers im Bundesgebiet absehbar zu einer relevanten Beeinträchtigung des Kindeswohls führen würde. Tatsächliche Umstände, die geeignet sein könnten, dieser Einschätzung die Grundlage zu entziehen oder zumindest Zweifel an ihr zu begründen, hat der Antragsteller dem Senat nicht mitgeteilt. Dies gilt auch für seine abschließende Stellungnahme vom 04.07.2023, zu der ihm der Senat ausdrücklich Gelegenheit gegeben hat. [...]