VG Hamburg

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Zitieren als:
VG Hamburg, Urteil vom 08.05.2023 - 13 A 2651/20 - asyl.net: M31708
https://www.asyl.net/rsdb/m31708
Leitsatz:

Feststellung der afghanischen Staatsangehörigkeit entgegen der Angaben im Visa-Informationssystem:

"1. Der Umstand, dass ein im VIS mit den Fingerabdrücken des Betroffenen verknüpftes Schengen-Visum auf Grund- bzw. Vorlage eines indischen Reisepasses ausgestellt wurde, erlaubt für sich genommen keine belast­baren Rückschlüsse auf die Staatsangehörigkeit des Betroffenen bzw. der in dem Pass abgebildeten Person. Denn selbst wenn es sich um ein echtes, d.h. amtlich ausgestelltes Dokument handelt, verbürgt dies nach der Erkenntnislage nicht die inhaltliche Richtigkeit der in dem Reisepass enthaltenen Angaben zur Person und zur Staatsangehörigkeit [...].

2. Die Feststellung des jeweiligen Herkunftslandes geht den nach § 31 Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 AsylG zu treffenden Entscheidungen im Sinne einer Vorfrage voraus. Ist die Feststellung fehlerhaft, so kann der angegriffene Bescheid insgesamt keinen Bestand haben; der Betroffene hat in diesem Fall einen Anspruch auf Neubescheidung seines Asylantrags bezogen auf das "richtige" Herkunftsland."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Afghanistan, Hindu, Pass, Passwesen, Staatsangehörigkeit, Indien, Rechtswidrigkeit, Schleuser, gefälschter Pass,
Normen: Asyl § 31 Abs. 2 S. 1, AsylG § 31 Abs. 3 S. 1,
Auszüge:

[...]

16 1. Die Beklagte geht zu Unrecht davon aus, dass der Kläger die indische Staatsangehörigkeit besitzt. Dem Umstand, dass das im VIS mit den Fingerabdrücken des Klägers verknüpfte Schengen-Visum auf Grund- bzw. Vorlage eines indischen Reisepasses ausgestellt wurde, kommt insoweit nur eine sehr begrenzte Indizwirkung zu (hierzu a)). Demgegenüber sprechen gewichtige Anhaltspunkte für die afghanische Staatsangehörigkeit des Klägers (hierzu b)).

17 a) Zwar ist dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Indien vom 22. September 2021 (im Folgenden: Lagebericht) zu entnehmen, dass indische Reisepässe nur auf Vorlage eines in Indien zum Identitätsnachweis zugelassenen Dokuments ausgestellt werden, etwa einer Geburtsurkunde oder eines Schulabgangszeugnisses der 10. Klasse (siehe – auch zum Folgenden – Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 21 [2021/1]1 ). Die Beantragung kann nur im Rahmen einer persönlichen Vorsprache beim Passamt erfolgen. [...]

17 a) Zwar ist dem Bericht des Auswärtigen Amtes über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Indien vom 22. September 2021 (im Folgenden: Lagebericht) zu entnehmen, dass indische Reisepässe nur auf Vorlage eines in Indien zum Identitätsnachweis zugelassenen Dokuments ausgestellt werden, etwa einer Geburtsurkunde oder eines Schulabgangszeugnisses der 10. Klasse (siehe – auch zum Folgenden – Auswärtiges Amt, Lagebericht, S. 21 [2021/1]1). [...]

19 Auch das australische Department of Foreign Affairs and Trade (DFAT) beschreibt das indische Passwesen als unzuverlässig und manipulationsanfällig. [...]

20 In Anbetracht dieser Erkenntnislage teilt der Berichterstatter nicht die Auffassung der Beklagten, dass allein die Vorlage eines indischen Reisepasses im Visumverfahren einen belastbaren Rückschluss auf die Staatsangehörigkeit des Klägers erlaubt (in der Sache ebenso VG Berlin, Urt. v. 30.11.2022, 6 K 875.17 A, juris Rn. 31). Selbst wenn es sich bei dem verwendeten Reisepass um ein echtes, d.h. amtlich  ausgestelltes Dokument gehandelt haben sollte – was nicht aufklärbar ist –, verbürgt dies gerade nicht die Richtigkeit der in dem Pass enthaltenen Angaben zur Person und zur Staatsangehörigkeit. Es erscheint durchaus plausibel, dass ein beauftragter Schlepper unter Verwendung der von dem Kläger abgegebenen Fingerabdrücke falsche bzw. inhaltlich unwahre Basisdokumente für einen indischen Reisepass beschafft hat, auf dessen Grundlage das im VIS aufgeführte Visum ausgestellt wurde. [...]

21 b) Im Unterschied zu der indischen konnte sich der Berichterstatter von der afghanischen Staatsangehörigkeit des Klägers überzeugen. Die Schilderung, er sei in Kandahar geboren worden, dort bis zur 4. Klasse zur Schule gegangen und habe anschließend bis zu seiner Ausreise im Jahr 2019 in Kabul gelebt, steht im Einklang mit den Eintragungen in der auszugsweise in Kopie vorgelegten Tazkira und erscheint insbesondere mit Blick auf die Sprachkenntnisse des Klägers glaubhaft. Dass er sich in der mündlichen Verhandlung bruchlos und jeweils fließend in den Sprachen Multani und Dari verständigen konnte, deutet angesichts der geringen Verbreitung beider Sprachen in Indien (vgl. hierzu DFAT, Country Information Report – India, Stand: 10.12.2020, S. 71 f. [G 15/20]) auf eine Sozialisation des Klägers in Afghanistan hin. Dies deckt sich mit der Einschätzung des in der Verhandlung anwesenden Dolmetschers, dem zufolge der Kläger eine der Region Kandahar zuzuordnende Varietät des Multani spricht; außerdem ließen seine Dari-Kenntnisse auf einen schulischen Spracherwerb schließen. Es liegt insofern nahe, dass der Kläger – ebenso wie sein Bruder (vgl. VG Hamburg, Urt. v. 8.5.2023, ..., n.v.) – durch Geburt die afghanische  Staatsangehörigkeit erworben hat. [...]

22 Auch besteht keine hinreichende Tatsachengrundlage für die Annahme, dass der Kläger zu einem späteren Zeitpunkt die indische Staatsangehörigkeit erworben und seine afghanische Staatsangehörigkeit infolgedessen möglicherweise verloren hat. [...]