OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 14.03.2023 - 4 MB 6/23 - asyl.net: M31700
https://www.asyl.net/rsdb/m31700
Leitsatz:

Zum Vorliegen des Duldungsstatus für das Chancenaufenthaltsrecht:

Für die Erteilung des Chancen-Aufenthaltsrechts ist es erforderlich, dass der Duldungsstatus aktuell (noch) gültig ist. Das Vorliegen einer Duldung zum Stichtag ist nicht ausreichend.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Chancen-Aufenthaltsrecht, Duldung, Beurteilungszeitpunkt, ununterbrochener Aufenthalt, Voraufenthaltszeit,
Normen: AufenthG § 104c
Auszüge:

[...]

8 a. Für die Erfüllung der Voraussetzungen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG genügt es nicht, sich am Stichtag des 31. Oktober 2022 seit fünf Jahren ununterbrochen geduldet, gestattet oder mit einer Aufenthaltserlaubnis im Bundesgebiet aufgehalten zu haben; hinzukommen muss nach dem eindeutigen Wortlaut der Norm, dass der Ausländer geduldet ist. Unerheblich ist, ob das Verwaltungsgericht diese zusätzliche Voraussetzung nicht geprüft oder aber angenommen hat, dass es insoweit ausreicht, wenn der Ausländer – wie hier der Antragsteller – sich am Stichtag jedenfalls noch auf einen Duldungsgrund berufen kann. Denn es ist mit der Antragsgegnerin davon auszugehen, dass der Tatbestand der Duldung zum Stichtag nicht ausreicht, sondern dass § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG nur diejenigen Ausländer erfasst, die diesen Status auch aktuell (noch) innehaben (so auch Dietz, Das Chancen-Aufenthaltsrecht, § 104c AufenthG im System des Ausländerrechts, NVwZ 2023, 15, 16). [...]#

10 bb. Dabei kann vorliegend dahinstehen, ob es für den aktuell zu fordernden Duldungsstatus auf den Zeitpunkt der Antragstellung (so Ziffer 1.3 der Anwendungshinweise des Bundesministeriums des Innern und für Heimat zur Einführung eines Chancen-Aufenthaltsrechts vom 23.12.2022 und Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 36. Ed. 01.01.2023, AufenthG § 104c Rn. 7) oder auf den Zeitpunkt der Behördenentscheidung bzw. den der gerichtlichen Entscheidung ankommt. Denn der Antragsteller verfügt(e) zu keinem dieser Zeitpunkte über eine Duldung oder erfüllte die Voraussetzungen für die Erteilung einer solchen. Er ist vollziehbar ausreisepflichtig, ohne dass ersichtlich oder vorgetragen worden wäre, dass seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich (gewesen) wäre. Dies war schon bei Antragstellung am 29. bzw. zum 31. Dezember 2022 der Fall. Anlässlich des Ablaufs der letzten Duldungsbescheinigung am 27. Oktober 2022 und erneut am 19. Dezember 2022 war ihm nur noch eine "Bescheinigung über den Aufenthaltsstatus" ausgestellt worden mit dem Klammerzusatz: "bei dieser Bescheinigung handelt es sich nicht um eine Duldungsbescheinigung". Zum Aufenthaltsstatus wurde ausgeführt, dass der Betroffene vollziehbar ausreisepflichtig und die Bescheinigung über die Aussetzung der Abschiebung erloschen sei. Es lägen keine Duldungsgründe vor. Bis zur Ausreise handele es sich bei dieser Bescheinigung um das entsprechende Ausweisdokument (VV Bl. 522, 540). Eine derartige Bescheinigung genügt den Duldungsanforderungen des § 104c Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht (vgl. OVG Münster, Beschl. v. 10.02.2023 - 18 B 103/23 -, juris Rn. 14). [...]

13 Richtig ist zwar, dass die Systematik des Aufenthaltsgesetzes keinen Raum für einen ungeregelten Aufenthalt eines Ausländers lässt. Dies bedeutet aber nur, dass ein vollziehbar ausreisepflichtiger Ausländer nach der Konzeption des Aufenthaltsgesetzes entweder unverzüglich abzuschieben oder zu dulden ist. Die tatsächliche Hinnahme des Aufenthalts, mithin eine stillschweigende – "faktische" – Aussetzung der Abschiebung außerhalb förmlicher Duldung, ohne dass die Vollstreckung der Ausreisepflicht betrieben wird, sieht das Gesetz nicht vor (vgl. nur BVerwG, Urt. v. 25.09.1997 - 1 C 3.97 -, juris Rn. 19; OVG Münster; Beschl. v. 27.07.2017 - 18 B 543/17 -, juris Rn. 14; so auch zur Neuregelung des § 104c AufenthG: OVG Münster, Beschl. v. 10.02.2023 - 18 B 103/23 -, juris Rn. 14). Dem entsprechend ist eine zur Duldung führende Unmöglichkeit der Abschiebung nicht schon bei jeder geringen zeitlichen Verzögerung infolge der notwendigen verwaltungsmäßigen Vorbereitungen anzunehmen, sondern nur bei dem zeitweiligen Ausschluss der Abschiebung aufgrund rechtlicher Verbote oder Hindernisse oder aufgrund tatsächlicher Umstände außerhalb der administrativen Organisation der Abschiebung (VGH München, Beschl. v. 14.02.2023 - 19 CS 22.2611 -, juris Rn. 24 f.). Allein aus dem "Stillhalten" der Ausländerbehörde während eines Verfahrens des vorläufigen Rechtsschutzes oder zur Überbrückung eines Zeitraums zur Vorbereitung aufenthaltsbeendender Maßnahmen ergeben sich keine materiellen Duldungsgründe (Hailbronner, Ausländerrecht, Stand Dez. 2022, § 25b AufenthG [Abs. 1], Rn. 19 f.).

14 So liegt es auch hier. Die Antragsgegnerin bereitet die Abschiebung des Antragstellers schon seit längerem vor. Bereits im Oktober 2022 lag ein Passersatzpapier vor und war ein Charterflug gebucht. Sodann sollte das Verfahren vor der Härtefallkommission abgewartet werden. Seitdem hatte sie jeweils nur mit vorübergehenden Hindernissen tatsächlicher Art zu tun. Nach der Entscheidung der Härtefallkommission am 10. November 2022 war der Antragsteller für die Antragsgegnerin bis zum 19. Dezember 2022 nicht erreichbar, da er sich im Kirchenasyl aufhielt. Mit der sodann ausgestellten "Bescheinigung über den Aufenthaltsstatus" vom 19. Dezember 2022 sollten die Weihnachtsfeiertage überbrückt werden; sie galt bis zum 2. Januar 2023. Seit dem 11. Januar 2023 läuft das Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes. [...]