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OVG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
OVG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 23.06.2023 - 4 MB 21/23 - asyl.net: M31694
https://www.asyl.net/rsdb/m31694
Leitsatz:

Zur Pflicht der Ankündigung von Abschiebungen:

"1. Der Abschiebung ohne Terminankündigung gemäß § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG geht eine Abschie­bungsandrohung mit Fristsetzung (59 Abs. 1 Satz 1 AufenthG) voraus. Allerdings darf die Regelung des § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nicht gezielt dazu genutzt werden, die Erlangung von Rechtsschutz gegen eine vollziehbar angeordnete Abschiebung zu verhindern.

2. Die Pflicht zur Ankündigung der Abschiebung nach § 59 Abs. 5 Satz 2 AufenthG gilt nur, wenn zuvor keine Frist zu freiwilligen Ausreise gesetzt worden ist, weil sich der vollziehbar ausreisepflichtige Ausländer in Haft oder sonstigem öffentlichen Gewahrsam (§ 58 Abs. 3 Nr. 1 AufenthG) befindet. Die Abschiebungs­haft ist hiervon nicht erfasst.

3. Intensive Eingriffe in die Bewegungsfreiheit und körperliche Integrität durch Fesselung und medikamen­töse Ruhigstellung während einer Abschiebung können die Abschiebung selbst zu einer unverhältnismäßigen Maßnahme machen. Anderes gilt, wenn die Zwangsmaßnahmen aufgrund massiver Gegenwehr des Abzuschiebenden der Abwehr einer konkret drohenden Eigen- und Fremdgefährdung dient und unter Einhaltung der nach Art. 8 Abs. 5 RL 2008/115/EG für Abschiebungen auf dem Luftweg zu beachtenden Gemeinsamen Leitlinien für Sicherheitsvorschriften bei gemeinsamen Rückführungen auf dem Luftweg im Anhang zur Entscheidung 2004/573/EG erfolgt."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Abschiebung, Reisefähigkeit, Abschiebungshindernis, Abschiebungsandrohung, freiwillige Ausreise, Attest, begleitete Abschiebung,
Normen: AufenthG § 59 Abs. 1 S. 8, AufenthG § 59 Abs. 1 S. 1, AufenthG § 59 Abs. 5 S. 2, AufenthG § 58 Abs. 3 Nr. 1, RL 2008/115/EG Art. 8 Abs. 5
Auszüge:

[...]

10 b. Richtig ist bei alledem, dass die Ausreisefrist im Hinblick auf die Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG zu gewährleisten hat, dass der Ausländer wirksamen Rechtsschutz erlangen kann. Hiervon machte der Antragsteller auch Gebrauch, indem er gegen die Abschiebungsandrohung im Bundesamtsbescheid vom 19. Februar 2019 einen Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO stellte (allerdings ohne Erfolg). Darüber hinaus dürfte die Regelung des § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG nicht gezielt dazu genutzt werden, einem ausreisepflichtigen Ausländer die Möglichkeit zu nehmen, eine vollziehbar angeordnete Abschiebung durch einen gerichtlichen Eilantrag zu verhindern (so etwa Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 14. Aufl. 2022, § 59 AufenthG Rn. 20, 39). Als Eilantrag käme insoweit auch ein gegen die Ausländerbehörde gerichteter Antrag nach § 123 VwGO wegen Vorliegens von Vollstreckungshindernissen in Betracht. [...]

15 a. Sowohl die Gewahrsams- als auch die Reisefähigkeit des Antragstellers wurde bislang bei jeder bevorstehenden Abschiebung jedenfalls bei ärztlicher Begleitung bestätigt; der Antragsteller selbst stellt die diesbezüglichen Feststellungen des Verwaltungsgerichts auch nicht in Frage. Aus den vorliegenden Attesten und Arztberichten aus der Zeit seit der Inhaftierung im Februar 2023 ergibt sich, dass der Antragsteller drogenabhängig ist und eine Methadonbehandlung durchlief. Im März 2023 befand er sich trotz ärztlicher Behandlungsbedürftigkeit und Medikamentenbedarf zunächst in einem guten Allgemeinzustand und war nicht akut suizidgefährdet (Medizinische Haft- und Verwahr- bzw. Gewahrsamsfähigkeitsbescheinigung für die AHE Glückstadt; ärztl. Bescheinigung Dr. …, beide v. … 2023). Zwar gab es Mitte März 2023 in der AHE einen Vorfall mit eigen- und fremdaggressivem Verhalten, doch soll sich der Antragsteller danach wieder unauffällig verhalten haben, ohne dass eine medizinische Diagnose gestellt worden wäre. Danach habe er einen latent angespannten, aufbrausenden, teilweise wütenden und impulsiven Eindruck gemacht, ohne sich eindeutig von suizidalem und selbstverletzendem Verhalten zu distanzieren (ärztl. Atteste v. ... und … 2023).

16 Ausweislich der vorliegenden Berichte der Bundespolizei und der begleitenden Ärzte über die abgebrochenen Abschiebungsversuche am 12. und 26. April 2023 habe sich der Antragsteller vor der Abschiebung jeweils ruhig, unauffällig und kooperativ verhalten, dies selbst noch im Flughafengebäude. Erst auf dem Vorfeld des Flughafens bei Betreten der Treppe zum Flugzeug habe der Antragsteller begonnen, sich gegen die Maßnahme zu wehren. Am 12. April 2023 er sei gegenüber den Polizeibeamten handgreiflich geworden, habe geschlagen und gebissen und hyperventiliert, woraufhin er an den Handgelenken gefesselt worden sei. Am 26. April 2023 habe er in einen Gewahrsamsraum des Rückführungsdienstes in einem Kontaktgespräch geäußert, dass er Widerstand leisten werde, wenn er fliegen müsse. Das daraufhin veranlasste Anlegen eines Festhaltegurtes sei "völlig unproblematisch und ohne Widerstand" erfolgt. Beim Besteigen der Treppe des Luftfahrzeugs habe der Antragsteller "aktiven Widerstand in Form von Winden und Sperren" geleistet, weshalb ihm "der Festhaltegurt Stufe 2 (Frankfurter Modell) angelegt" worden sei. Der begleitende Arzt gibt an, dass der Antragsteller versucht habe, sich auf die Treppe zu werfen. Es sei zu einer massiven Gewaltanwendung durch den Antragsteller gekommen. Aufgrund dieser Selbstgefährdung habe er ihm über einen nasalen Zerstäuber (MAD) 5mg Midazolam appliziert.

17 Im Flugzeug selbst soll der Antragsteller jeweils versucht haben, sich selbst zu verletzen, indem er den Kopf gegen den Vordersitz habe stoßen wollen, so dass auch sein Kopf fixiert worden sei. Anschließend habe er lautstark und wiederholend die Worte "Allahu akbar" geschrien und am 26. April 2023 auch, dass "die Ungläubigen getötet werden" müssten. Außerdem habe er versucht, von seinem Sitzplatz aufzustehen und sich mit Tritten gegen die Begleitbeamten zu lösen. Dies habe nur durch eine Fixierung der Beine mittels Klettband verhindert werden können. Zweimal habe sich der Copilot auf Arabisch mit dem Antragsteller unterhalten, dies habe aber nur kurzfristig zur Beruhigung geführt. Der begleitende Arzt gibt an, dass es trotz des Midazolam-Einsatzes zu maximalem Krafteinsatz des Antragstellers gekommen sei; er habe sich mit Händen, Füßen und Kopf/Oberkörper gegen die Sitzposition zur Wehr gesetzt. Zur Vermeidung von schweren Verletzungen, wie z.B. Knochenbrüche, sei ihm zur Initialbehandlung dieses selbstgefährdenden Erregungszustandes das Medikament Ciatyl-Z Acuphase 50 mg (1ml) Injektionslösung intramuskulär (Oberschenkel links) verabreicht worden. Dennoch habe der Antragsteller weiter geschrien. Gleichzeitig habe er um sich gespuckt. Das Ganze habe bei gefüllter Maschine fast eine halbe Stunde gedauert. Ab dem Signal zum Aussteigen sei er ruhig gewesen und habe sich aus dem Flugzeug begleiten lassen. Nach einem kurzen Aufenthalt in der Gewahrsamszelle habe man die Fixierungen entfernt und den Antragsteller kurz untersucht, aber keine Verletzungen oder Beeinträchtigung des Gangbildes festgestellt. Zusammenfassend stellte der Arzt fest, dass sich der Antragsteller "in körperlich sehr guter Verfassung" befunden "und offensichtlich versucht" habe, "sich einer Abschiebung mit allen Mitteln zu widersetzen. In der hiesigen Haft sei es für ihn angenehmer als in Marokko."

18 Nach Abbruch des Abschiebungsversuches am 12. April 2023 sei der Antragsteller nicht mehr ansprechbar gewesen und habe sich verkrampft. Ausweislich des vorläufigen Ambulanzbriefes Asklepios Klinik Barmbek vom gleichen Tag habe das Krampfereignis ca. 20 min angehalten. Der Antragsteller sei nicht erweckbar gewesen, nach Verabreichung von 2 mg Tavor oder Lorazepam aber zunehmend ruhig und ansprechbar geworden. Diagnostiziert wurde ein psychogener nicht-epileptischer Anfall und eine psychische Belastungsstörung. Eine Indikation zur stationären Aufnahme bestand nicht.

19 Am Abend des ... 2023 wurde der Antragsteller als Notfall per RTW in das Klinikum ... gebracht wegen plötzlicher bifrontaler Kopfschmerzen und leichten Drehschwindels, die jedoch bei der Anamnese nicht mehr bestanden. Der Befund war laut Klinikbericht regelrecht; auch neurologisch ergaben sich keine Auffälligkeiten, weshalb auf therapeutische Maßnahmen verzichtet wurde. Diagnostiziert wurden passagere Kopfschmerzen als Folge einer Belastungsreaktion; tags darauf wurde der Antragsteller entlassen. 20 Am ... 2023 wurde der Antragsteller wegen des Verdachts auf eine allergische Reaktion (geschwollene Zunge, Atemnot) erneut in das Klinikum ... gebracht und stationär aufgenommen. Nach Medikamentengabe schon in der AHE und einer Gabe von Midazolam im RTW waren die Symptome bei der Aufnahme laut Bericht des Klinikums "deutlich regredient", so dass keine weitere Behandlung erforderlich war. Ein bei der routinemäßigen EKG aufgefallene Vorhofflimmern wurde zunächst medikamentös behandelt, dann jedoch mittels elektrischer Kardioversion. Dieses sei am gleichen Tag ohne Komplikationen gelaufen und der Antragsteller sodann beschwerdefrei gewesen. Die Vitalparameter zeigten keine Auffälligkeiten. Empfohlen wurde die 4-wöchige Einnahme von Apixaban zur Hemmung der Blutgerinnung (Entlassungsbericht v. 28.04.2023). Zurück in der AHE empfahl der ärztliche Dienst bis auf weiteres eine 15-minütige Beobachtung.

21 b. Nach den dem Senat vorliegenden Erkenntnissen kann nach alledem auch im gegenwärtigen Zeitpunkt des Vollzugs der Abschiebung nicht von einer Reiseunfähigkeit des Antragstellers ausgegangen werden. Dies gilt auch für eine etwa nur "vorläufige" oder "momentane" Reiseunfähigkeit in Form einer Suizidgefahr, die speziell aus den besonderen Belastungen der Abschiebung resultiert. Eine entsprechende medizinische Diagnose existiert nicht; erst recht findet sich in den Verwaltungsvorgängen oder in der Verfahrensakte keine qualifizierte ärztliche Bescheinigung, die die gesetzliche Vermutung des § 60c Abs. 2c Satz 1 AufenthG widerlegt. Im Übrigen liegt auch bei einer nicht völlig auszuschließenden Suizidgefahr nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vor, wenn die Abschiebung von der Ausländerbehörde so gestaltet werden kann, dass der Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann. Ob dies hinreichend sichergestellt ist, kann nur unter Würdigung der Einzelfallumstände beantwortet werden (OVG Schleswig, Beschl. des Senats v. 26.03.2018 - 4 MB 24/18 -, juris Rn. 5 m.w.N.).

22 c. Des Weiteren ist nicht ausreichend sicher zu prognostizieren, dass eine neuerliche Abschiebung des Antragstellers nur unter Ergreifung der genannten Maßnahmen erfolgen wird und dass, sollte es doch für erforderlich erachtet werden, dies als rechtswidrig und unverhältnismäßig einzustufen wäre. [...] Die Fesselungen und die Gabe von Beruhigungsmitteln erfolgte bislang situationsbedingt und aufgrund der massiven Gegenwehr des Antragstellers. Sollte sich eine solche Situation wiederholen, ergeben sich aus den vorgenannten Sachverhalten vom 12. und 26. April 2023 keine ausreichenden Anhaltspunkte dafür, dass die begleitenden Beamten und der Arzt eine Abschiebung in rechtswidriger Weise und "um jeden Preis" betreiben würden. [...]

24 Ziffer 3.2. Buchst. b) der Gemeinsamen Leitlinien gibt vor, dass bei rückkehrunwilligen oder Widerstand leistenden Personen Zwangsmaßnahmen angewandt werden können, diese aber angemessen sein müssen und nicht über die Grenzen des Vertretbaren hinausgehen dürfen. Die Würde und körperliche Unversehrtheit der rückzuführenden Person müssen gewahrt werden. Im Zweifelsfall ist die Rückführung, einschließlich der Anwendung rechtmäßiger Zwangsmaßnahmen, die durch den Widerstand und die Gefährlichkeit der rückzuführenden Person gerechtfertigt sind, nach dem Grundsatz "keine Rückführung um jeden Preis" abzubrechen. Nach Buchst. e) Satz 2 ist die Verabreichung von Beruhigungsmitteln, mit denen die Rückführung erleichtert werden soll, unbeschadet etwaiger Notmaßnahmen zur Gewährleistung der Flugsicherheit, verboten. Gemäß Ziffer 3.3 der Leitlinien darf zudem nur ein begleitender Arzt nach einer genauen ärztlichen Diagnose Medikamente verabreichen.

25 Eine rechtswidrig durchgeführte Abschiebung "um jeden Preis" steht nach alledem nicht zu befürchten. Der Antragsteller legt keine Erkenntnisse dar, die ergeben, dass sich die Beamten der Bundespolizei und der jeweils begleitende Arzt in der Vergangenheit an die zitierten Vorgaben nicht gehalten hätten. Sowohl die Fesselungen als auch die vermutlich zwangsweise Gabe von Beruhigungsmitteln dienten ersichtlich nicht nur dem Zweck, eine problemlose Rückführung zu gewährleisten, sondern der Abwehr einer jeweils konkret drohenden Eigen- und Fremdgefährdung. Welche milderen Mittel sich angeboten hätten, legt der Antragsteller ebenso wenig dar wie darüberhinausgehende Anhaltspunkte für die Annahme, dass sich das Begleitpersonal im Verlauf der heutigen Abschiebung anders verhalten sollte. [...]