VerfGH Berlin

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Zitieren als:
VerfGH Berlin, Beschluss vom 16.05.2023 - 7/23, 7 A/23 (Asylmagazin 9/2023, S. 321 f.) - asyl.net: M31688
https://www.asyl.net/rsdb/m31688
Leitsatz:

Zu den Beteiligungsrechten von Minderjährigen:

Es spricht einiges dafür, dass der Vormund eine minderjährige Person an der Entscheidung über die Rücknahme einer Klage (hier: Aufstockungsklage auf Anerkennung als Flüchtling) beteiligen muss, denn je älter und reifer Minderjährige sind (hier: ein fast 17-jähriger Jugendlicher), desto mehr ist ihre Meinung zu berücksichtigen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: minderjährig, unbegleitete Minderjährige, Asylverfahren, Klagerücknahme, Vormundschaft, Beteiligungsrechte
Normen: GR-Charta Art. 24 Abs. 1 S. 3, UN-KRK Art. 12, BGB § 1788 Nr. 5, BGB § 1626 Abs. 2 S. 2
Auszüge:

[...]

18 Diesen verfassungsrechtlichen Anforderungen wird der angegriffene Beschluss nicht gerecht. Das Verwaltungsgericht hat die Anforderungen an die Erfolgsaussichten überspannt. Aus der Sicht eines verständigen, unbemittelten Rechtssuchenden bei Erhebung der Klage war die Erfolgsaussicht der Klage nicht lediglich eine entfernte. Der Ausgang des Verfahrens vor dem Verwaltungsgericht ist vielmehr offen. Die maßgebliche Frage, ob das ursprüngliche Asylklageverfahren des Beschwerdeführers durch die Klagerücknahme des Vormunds beendet wurde, ist schwierig und bedarf einer näheren Erörterung.

19 Es kann nicht sicher festgestellt werden, ob und wie der Beschwerdeführer vor der Rücknahme seiner Asylklage durch seinen Vormund, das Bezirksamt, beteiligt wurde. Ob eine Beteiligung stattgefunden hat, ergibt sich zunächst nicht aus dem Vermerk des Bezirksamtes vom 7. März 2019. Denn es ist unklar, ob die dort genannte Rücksprache mit dem bevollmächtigten Rechtsanwalt das Bezirksamt oder den Beschwerdeführer betrifft. Ob der Beschwerdeführer beteiligt wurde, ergibt sich darüber hinaus nicht eindeutig aus dem Schreiben des Bezirksamtes an den Verfassungsgerichtshof vom 24. April 2023. Danach enthalte die Vormundschaftsakte keine Informationen darüber, wie der Beschwerdeführer über die Entscheidung über die Rücknahme der Klage informiert worden sei. Diese Aussage und die weiteren Angaben des Bezirksamtes in dem Schreiben vom 24. April 2023 sind nicht hinreichend konkret genug, um eine Beteiligung des Beschwerdeführers zu belegen.

20 Geht man davon aus, dass der Beschwerdeführer vor der Rücknahme seiner Asylklage nicht beteiligt wurde, könnte die Klagerücknahme wegen der fehlenden Beteiligung des Beschwerdeführers unwirksam sein. Dies setzt voraus, dass die Beteiligung des Beschwerdeführers notwendig war (1.) und dass das Unterbleiben der Beteiligung dazu führt, dass die Klagerücknahme unwirksam ist (2.).

21 1. Es spricht einiges dafür, dass die Beteiligung des Beschwerdeführers vorliegend notwendig war.

22 a) Das Recht Minderjähriger auf Beteiligung ergibt sich aus Art. 24 Abs. 1 Satz 3 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union. Danach wird die Meinung von Kindern in den Angelegenheiten, die sie betreffen, in einer ihrem Alter und ihrem Reifegrad entsprechenden Weise berücksichtigt. Die Vorschrift sieht nach ihrem Wortlaut "wird" ein Recht auf Beteiligung als notwendige Voraussetzung einer Berücksichtigung der Meinung von Kindern vor. Das Recht aus Abs. 1 Satz 3 wird beeinträchtigt, wenn dem Kind trotz zureichendem Alter und Reifegrad keine ausreichende Möglichkeit eröffnet wird, seine Meinung zu äußern und in den Entscheidungsprozess einzubringen; dem Kind muss die tatsächliche und rechtliche Möglichkeit eröffnet werden, sich zu äußern (Jarass, in: Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 4.Aufl. 2021, Art. 46 Rn. 14). Dabei ist die Meinung des Kindes umso mehr zu berücksichtigen, je älter und reifer das Kind ist (Ross, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 24 Rn. 8). Wortlaut sowie Sinn und Zweck der Beteiligungsvorschriften deuten darauf hin, dass das Beteiligungsrecht nicht nur ein reines Gehörsrecht ist, weil sonst die Berücksichtigung der Meinung nicht garantiert wäre (Ross, in: Schwarze/Becker/Hatje/Schoo, EU-Kommentar, 4. Aufl. 2019, Art. 24 Rn. 8). Vielmehr dürfte eine Berücksichtigungspflicht vorliegen (Hölscheidt, in: Meyer/Hölscheidt, Charta der Grundrechte derEuropäischen Union, 5. Auflage 2019, Art. 24 Rn. 26).

23 Das Recht Minderjähriger auf Beteiligung folgt überdies aus Art. 12 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes - UN-Kinderrechtskonvention -, dem Bundestag und Bundesrat mit Gesetz vom 17. Februar 1992 (BGBl. II S. 121) zugestimmt haben und das nach Ratifikation am 6. März 1992 für Deutschland am 5. April 1992 in Kraft getreten ist (Bekanntmachung vom 10. Juli 1992 - BGBl. II S. 990). [...]

24 Das Recht Minderjähriger auf Beteiligung ergibt sich nunmehr auch aus den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches zum Vormundschaftsrecht. Die zum 1. Januar 2023 im Rahmen der Reform des Vormundschaftsrechts eingeführte Vorschrift des § 1788 Nr. 5 BGB bestimmt, dass das Mündel insbesondere ein Recht auf Beteiligung an ihn betreffenden Angelegenheiten hat, soweit es nach seinem Entwicklungsstand angezeigt ist. [...]

25 Dass eine Beteiligung des Mündels nicht in das Ermessen des Vormunds gestellt ist, belegt schließlich auch die Gesetzesbegründung. Danach ist das Recht auf Beteiligung des Mündels an den ihn betreffenden Angelegenheiten aus dem Gebot gemäß § 1626 Absatz 2 Satz 2 BGB abgeleitet, wonach die Eltern Fragen der elterlichen Sorge mit dem Kind besprechen und Einvernehmen anstreben sollen. Über die allgemeine Besprechungspflicht hinaus soll der Vormund das Mündel auch in die Entscheidungssituation einbeziehen, soweit dies nach seiner Entwicklung angezeigt ist. Damit soll vermieden werden, dass "über seinen Kopf hinweg" entschieden wird. Mit den Regelungen soll die Subjektstellung des Mündels in der Vormundschaft hervorgehoben und besser zur Geltung gebracht werden (Deutscher Bundestag, 19. Wahlperiode, Drucksache 19/24445, S. 203). Aus dem Recht auf Beteiligung folgt indes nicht, dass der Vormund in jedem Fall an die Meinung des Minderjährigen gebunden ist.

26 b) Gemessen an diesen Vorschriften dürfte eine Beteiligung des Beschwerdeführers vor Rücknahme der Asylklage notwendig gewesen sein.

27 Bei dem Asylverfahren handelt es sich um eine für die Zukunft des Beschwerdeführers besonders bedeutsame Angelegenheit. Es bestimmt das Bleiberecht des Beschwerdeführers und die hieran anknüpfenden Möglichkeiten einer Ausbildung und Erwerbstätigkeit. Dem steht auch nicht entgegen, dass dem Beschwerdeführer bereits subsidiärer Schutz gewährt wurde und es sich bei seiner Klage um eine sogenannte "Aufstockerklage" handelt, in der die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft angestrebt wird. Insbesondere wegen der Einschränkungen des Familiennachzugs bei subsidiär Schutzberechtigten kann die Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Beschwerdeführer rechtlich vorteilhaft sein. Dies war für den Vormund, das Bezirksamt, zum Zeitpunkt der Klagerücknahme auch erkennbar. Der Vermerk des Bezirksamtes vom 7. März 2019 enthält Ausführungen zu der Frage des Familiennachzugs.

28 Darüber hinaus legen auch Alter und Reifegrad des Beschwerdeführers eine notwendige Beteiligung nahe. Der Beschwerdeführer war zu dem Zeitpunkt der Klagerücknahme 16 Jahre und 9 Monate alt. Es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass er den erforderlichen Reifegrad für die Erörterung einer Rücknahme seiner Asylklage nicht besaß. [...]