VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 13.06.2023 - 39 L 299/23 A - asyl.net: M31687
https://www.asyl.net/rsdb/m31687
Leitsatz:

Zur Zuständigkeit im Dublin-Verfahren bei Asylantragstellung bei Minderjährigkeit und anschließender Weiterreise:

1. Die Kriterien zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats gemäß den Art. 8 bis 15 Dublin III-VO finden grundsätzlich nur im Aufnahmeverfahren (Art. 18 Abs. 1 Bst. a, Art. 21 f. Dublin III-VO) Anwendung. Hatte die betroffene Person vor ihrem Asylantrag bereits in einem weiteren Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt und findet deshalb gemäß Art. 18 Abs. 1 Bst. b bis d Dublin III-VO das Wiederaufnahmeverfahren (Art. 23 ff. Dublin III-VO) Anwendung, sind diese Kriterien grundsätzlich nicht anwendbar.

2. Etwas anderes gilt für Art. 8 Abs. 4 Dublin III-Verordnung, wonach für die Prüfung des Asylantrags unbegleiteter minderjähriger Geflüchteter ohne Familienangehörige oder Verwandte der Mitgliedstaat zuständig ist, in dem der letzte Antrag auf internationalen Schutz gestellt wurde. Zum Schutz minderjähriger Geflüchteter und mit Blick auf die in Art. 24 GR-Charta verbrieften Rechte von Kindern findet dieses Kriterium zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats auch im Wiederaufnahmeverfahren Anwendung.

3. Die Versteinerungsklausel des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO, wonach bei Anwendung der Zuständigkeitskriterien von der Situation auszugehen ist, die zum Zeitpunkt des ersten Asylantrags in einem Mitgliedstaat gegeben ist, betrifft grundsätzlich auch das Kriterium der Minderjährigkeit. In Fällen, in denen Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO im Wiederaufnahmeverfahren angewandt wird, ist jedoch abweichend vom Wortlaut des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO für die Bestimmung der Minderjährigkeit nicht auf den ersten Asylantrag in einem Mitgliedstaat, sondern auf den letzten Asylantrag im Aufenthalts­mitgliedstaat abzustellen.

4. Stellt eine Person in einem Mitgliedstaat minderjährig einen Asylantrag, reist dann weiter und stellt in einem anderen Mitgliedstaat einen weiteren Asylantrag, so ist der Staat des letzten Asylantrags zuständig. Ist die Person zwischenzeitlich, d.h. vor dem zweiten Asylantrag, volljährig geworden, ist der Staat des ersten Asylantrags zuständig.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 06.06.2013 - C-648/11 (= ASYLMAGAZIN 6/2013; S. 200 ff.) - asyl.net: M20811)

Schlagwörter: Dublinverfahren, minderjährig, Beurteilungszeitpunkt, Versteinerungsklausel, Aufnahmeverfahren, Wiederaufnahmeverfahren, unbegleitete Minderjährige, Weiterreise, Dublin-III-VO,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 34a Abs. 1 S. 1, VO 604/2013 Art. 8 Abs. 4, VO 604/2013 Art. 18 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 7 Abs. 2, VO 604/2013 Art. 21, VO 604/2013 Art. 23, GR-Charta Art. 24
Auszüge:

[...]

7 Österreich ist für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers gemäß Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO zuständig (1.). Dem steht weder eine vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO, noch eine Verpflichtung der Antragsgegnerin, ihre Zuständigkeit nach Art. 8 Abs. 2 Dublin III-VO ausnahmsweise anzuerkennen (3.), entgegen. Eine Zuständigkeit der Antragsgegnerin ergibt sich zuletzt weder aus Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2 Dublin III-VO, noch aus Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO (4.).

8 1. Nach Art. 18 Abs. 1 Buchst. b Dublin III-VO ist der nach dieser Verordnung zuständige Mitgliedstaat verpflichtet einen Antragsteller, der während der Prüfung seines Antrags in einem anderen Mitgliedstaat einen Antrag gestellt hat oder der sich im Hoheitsgebiet eines anderen Mitgliedstaats ohne Aufenthaltstitel aufhält, nach Maßgabe der Artikel 23, 24, 25 und 29 wieder aufzunehmen.

9 Diese Voraussetzungen sind erfüllt. Ausweislich der Eurodac-Treffermeldung der Kategorie 1 vom 19. Oktober 2022 [...] stellte der Antragsteller an diesem Datum seinen ersten Asylantrag in Österreich. [...]

10 Die weiteren Voraussetzungen für eine Wiederaufnahme des Antragstellers sind ebenfalls erfüllt. [...]

11 Ohne Bedeutung ist dabei grundsätzlich, ob der für die Wiederaufnahme zuständige Mitgliedstaat - hier Österreich – nach den Kriterien des Kapitel III der Dublin III-VO zuständig ist. Denn diese Kriterien betreffen grundsätzlich allein das Aufnahmeverfahren. Die Bestimmung der Zuständigkeit des ersuchten Mitgliedstaats richtet sich hier nach den Regelungen über das Wiederaufnahmeverfahren gemäß Art. 23 ff. Dublin III-VO. Danach reicht es grundsätzlich aus, dass der ersuchte Mitgliedstaat den Erfordernissen der Art. 18 Abs. 1 Buchst. b) bis d) Dublin III-VO genügt [...].

12 2. Auch greift vorliegend nicht eine vorrangige Zuständigkeit der Antragsgegnerin nach Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO. Diese Vorschrift ist zwar auch im Wiederaufnahmeverfahren nach Art. 23 ff. Dublin III-VO anwendbar (a.). Der Antragsteller war jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt seiner Asylantragstellung im Sinne der Dublin III-VO in der Bundesrepublik bereits volljährig (b.). Auf den Zeitpunkt seines ersten Asylantrages in Österreich kommt es nicht an (c.).

13 a. Die Zuständigkeitsvorschrift des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO ist entgegen der beschriebenen Unanwendbarkeit der Zuständigkeitskriterien des Kapitel III der Dublin III-VO auch im Wiederaufnahmeverfahren anwendbar. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes – EuGH – ist die Vorgängerregelung des Art. 6 Abs. 2 der Verordnung Nr. 343/2003 des Rates vom 18. Februar 2003 dahingehend auszulegen, dass sie in Fällen, in denen ein unbegleiteter Minderjähriger in mehr als einem Mitgliedstaat einen Asylantrag gestellt hat, denjenigen Mitgliedstaat als "zuständigen Mitgliedstaat" bestimmt, in dem sich dieser Minderjährige aufhält, nachdem er dort einen Asylantrag gestellt hat [...]. Nach Auffassung des Einzelrichters ist diese Rechtsprechung nicht durch die neuerliche Rechtsprechung des EuGH, mit der dieser die strikte Trennung zwischen Auf- und Wiederaufnahmeverfahren betont, überholt. Denn das Auslegungsergebnis, wonach die Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger gemäß Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO stets durch den Aufenthaltsmitgliedstaat zu prüfen sind, in dem der letzte Asylantrag gestellt wird, begründet der EuGH maßgeblich mit Art. 24 Abs. 2 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, der besonderen Vulnerabilität und dem Erfordernis einer möglichst raschen Entscheidung über die Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger [...]. Der EuGH hat zudem bereits anerkannt, dass die strikte Trennung von Auf- und Wiederaufnahmeverfahren Ausnahmen in Bezug auf die Zuständigkeitskriterien der Art. 8-10 Dublin III-VO unterliegt. [...]

14 b. Der Antragsteller war indes weder bei Anbringung seines Asylgesuches, noch bei Asylantragstellung im Sinne der Dublin III-Verordnung in der Bundesrepublik minderjährig. [...]

15 Vorliegend brachte der Antragsteller sein Asylgesuch im Sinne des § 13 Abs. 1 AsylG am 3. Januar 2023 und damit ... nach Erreichen der Volljährigkeit beim Landesamt für Flüchtlingsangelegenheiten Berlin - LAF - an. Dies ergibt sich aus der Dokumentation der Äußerung des Asylbegehrens [...], dem Laufzettel zum Asylerstantrag des LAF [...] und insbesondere dem EURODAC-Ergebnis, dass einen EURODAC-Treffer der Kategorie 1 in der Bundesrepublik ebenfalls für den 3. Januar 2023 ausweist [...]. Somit ist davon auszugehen, dass sich der Antragsteller als gerade Volljähriger zum LAF begeben und dort erstmals um Asyl nachgesucht hat. Dem steht nicht entgegen, dass der Antragsteller sich bereits am ... November 2022 bei der zentralen Erstaufnahme- und Clearingstelle für unbegleitete, minderjährige Geflüchtete in Berlin gemeldet hat und als unbegleiteter Minderjähriger gemäß § 42 SGB VIII in Obhut genommen wurde. Denn Voraussetzung dafür ist regelmäßig schon kein Asylgesuch, sondern lediglich, dass ein minderjähriger Drittstaatsangehöriger unbegleitet nach Deutschland kommt und sich weder Personensorge- noch Erziehungsberechtigte im Inland aufhalten [...]. Zudem kann das Asylgesuch nach § 13 Abs. 1 AsylG mangels Handlungsfähigkeit minderjähriger Antragsteller, vgl. § 12 Abs. 1 AsylG, nur durch die gesetzlichen Vertreter angebracht werden [...]. Es ist nicht ersichtlich, dass noch während der Minderjährigkeit des Antragstellers ein Vormund für diesen ein Asylgesuch angebracht hätte. War der Antragsteller somit im Zeitpunkt der Anbringung seines Asylgesuches am 3. Januar 2023 volljährig, ist auch unerheblich, wann der Antragsgegnerin die Verschriftlichung des Asylgesuches (Asylverfahrensakte S. 108) oder ein behördliches Protokoll über das Asylgesuch zugegangen ist.

16 c. Die Bundesrepublik ist auch nicht deshalb für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig, weil dieser bei Asylantragstellung in Österreich noch minderjährig war. Zwar ist wie dargestellt gemäß Art. 7 Abs. 2 Dublin III-Verordnung grundsätzlich auf den Zeitpunkt abzustellen, bei dem der erste Antrag auf internationalen Schutz auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten gestellt wurde. Dies wäre vorliegend der in Österreich am 19. Oktober 2022 gestellte Asylantrag. Allerdings ist hiervon für die Frage der Minderjährigkeit im Falle der Mehrfachantragstellung dahingehend abzuweichen, dass die Regelung des Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO nur greift, wenn der Antragsteller bei dem letzten Antrag im Aufenthaltsstaat minderjährig war. Insofern ist in dieser Fallkonstellation der Zeitpunkt der "Versteinerung" entgegen dem Wortlaut der Vorschrift zu verlagern [...].

17 Dies folgt richtigerweise aus einer teleologischen Auslegung von Art. 8 Abs. 4 i.V.m. Art. 7 Abs. 2 Dublin III-Verordnung. Würde die Minderjährigkeit im Zeitpunkt der ersten Antragstellung auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten "versteinert", würde dies längst volljährig gewordenen Antragstellern erlauben, ohne zeitliche Grenze in andere Mitgliedstaaten weiterzureisen und neuerliche Asylanträge zu stellen. Dies widerspräche dem Ziel der Dublin III-Verordnung, unerwünschtes "forum shopping" zu verhindern [...]. Für eine Anknüpfung gerade an den Zeitpunkt des ersten auf dem Gebiet der Mitgliedstaaten gestellten Antrag auf internationalen Schutz besteht insofern aus Sicht des Minderjährigenschutzes kein Bedürfnis. Für eine solche Auslegung spricht indes auch, dass es sich bei der Anwendung von Art. 8 Abs. 4 Dublin III-VO in Fällen des Wiederaufnahmeverfahrens nach Art. 23 ff. Dublin III-VO wie dargestellt um eine Ausnahme von der Trennung zwischen Auf- und Wiederaufnahmeverfahren handelt und diese Ausnahme im Lichte ihres Zweckes eng auszulegen ist.

18 Anzumerken ist, dass aus dieser einschränkenden Auslegung des Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO nicht folgt, dass die Minderjährigkeit grundsätzlich nicht von Art. 7 Abs. 2 Dublin III-VO umfasst wäre [...]. Vielmehr geht die überwiegende Rechtsprechung davon aus, dass etwa im Aufnahmeverfahren nach Art. 21 f. Dublin III-VO für die Minderjährigkeit auf den Zeitpunkt der Asylantragstellung abzustellen ist.  [...]