VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 15.06.2023 - 23 K 413/22 A (Asylmagazin 10-11/2023, S. 375 ff.) - asyl.net: M31686
https://www.asyl.net/rsdb/m31686
Leitsatz:

Potenziell bestehende zweite Staatsbürgerschaft schließt Flüchtlingseigenschaft nicht aus:

1. Die bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit, neben der venezolanischen auch die kolumbianische Staatsangehörigkeit zu erlangen, reicht nicht aus, um einen Ausschluss von der Flüchtlingseigenschaft zu begründen.

2. Bei der Prüfung, ob von der schutzsuchenden Person vernünftigerweise erwartet werden kann, den Schutz des Staates der weiteren Staatsangehörigkeit in Anspruch zu nehmen, ist eine weitergehende Zumutbarkeitsprüfung erforderlich. Diese umfasst die allgemeine Lage in diesem Staat und die individuellen Umstände der schutzsuchenden Person.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Venezuela, Kolumbien, Staatsangehörigkeit, Feststellung der Staatsangehörigkeit, Annahme der Staatsangehörigkeit, Ausschlussgrund, Flüchtlingsanerkennung, politische Verfolgung, Asylberechtigung,
Normen: RL 2011/95/EU Art. 4 Abs. 3, AsylG § 3 Abs. 3 S. 1 Nr. 2, GG Art. 16a, AsylG § 26
Auszüge:

[...]

33 Voraussetzung für eine Unzulässigkeit nach § 29 Abs. 1 Nr. 4 AsylG ist zum einen, dass es sich bei dem in Betracht gezogenen Staat überhaupt um einen Drittstaat handelt. Drittstaat im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 27 AsylG bzw. "erster Asylstaat" im Sinne von Art. 33 Abs. 2 Buchst. b, Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie kann nur ein Staat sein, der sich vom Herkunftsland des Betroffenen unterscheidet [...]. In materieller Hinsicht muss der Drittstaat bereit sein, den Ausländer wieder aufzunehmen und diesem eine den Anforderungen des § 27 AsylG i. V. m. Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie entsprechende Sicherheit zu gewährleisten. Dafür genügt nicht allein die in § 27 AsylG erwähnte Sicherheit vor politischer Verfolgung; diese Regelung ist vielmehr in unionsrechtskonformer Auslegung durch die in Art. 35 Asylverfahrensrichtlinie an einen "ersten Asylstaat" gestellten Anforderungen in der Auslegung des EuGH zu ergänzen. Nach dieser Vorschrift ist neben der Wiederaufnahmebereitschaft des betreffenden Staates erforderlich, dass der Antragsteller dort als Flüchtling anerkannt wurde und er diesen Schutz weiterhin in Anspruch nehmen darf oder dass ihm in dem betreffenden Staat anderweitig ausreichender Schutz, einschließlich der Beachtung des Grundsatzes der Nicht-Zurückweisung, gewährt wird. Danach muss der Betroffene nicht nur die Garantie haben, dass er in dem Drittstaat wieder aufgenommen wird. Ihm dürfen dort auch weder flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung noch Gefahren drohen, die einen Anspruch auf subsidiären Schutz begründen bzw. die Schwelle des Art. 3 EMRK erreichen. Er muss sich dort in Sicherheit und unter menschenwürdigen Lebensbedingungen so lange aufhalten können, wie es die im Land seines gewöhnlichen Aufenthalts bestehenden Gefahren erfordern [...]. Ein "anderweitiger ausreichender Schutz" im Sinne des Art. 35 Abs. 1 lit. b Asylverfahrensrichtlinie ist dabei nur dann anzunehmen, wenn der Schutz der betreffenden Person, neben der rein objektiven Verfolgungssicherheit, durch die Zuerkennung irgendeines Schutzstatus in dem Drittstaat auch entsprechend formalisiert worden ist [...].

34 Gemessen daran sind die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 4 i. V. m. § 27 AsylG nicht erfüllt. Denn zum einen hat keines der Länder, in denen sich der Kläger im Zeitraum zwischen seiner Ausreise aus Venezuela und seiner Einreise nach Deutschland aufhielt, die Bereitschaft zur Wiederaufnahme des Klägers erklärt. Zum anderen wurde dem Kläger auch weder in Kolumbien noch in El Salvador oder in Guatemala zu irgendeinem Zeitpunkt die Flüchtlingseigenschaft (Art. 35 Abs. 1 lit. a Asylverfahrensrichtlinie) oder ein anderweitiger ausreichender Schutz(-status) (Art. 35 Abs. 1 lit. b Asylverfahrensrichtlinie) gewährt. Vielmehr hielt sich der Kläger in diesen Ländern bis zuletzt illegal auf.

35 Der Kläger kann vor diesem Hintergrund auch nicht auf Kolumbien als sicheren Drittstaat verwiesen werden, weil er möglicherweise die kolumbianische Staatsangehörigkeit annehmen könnte. Zwar wird vertreten, dass ein ausreichender Schutz vor Verfolgung in einem Drittstaat anzunehmen sei, wenn der Flüchtling (noch) nicht die Staatsangehörigkeit dieses Drittstaates besitze, nach dessen innerstaatlichem Recht aber einen Anspruch auf Erwerb dieser Staatsangehörigkeit habe [...]. Jedenfalls vorliegend verfängt dies – unabhängig von den obigen Ausführungen – jedoch schon deshalb nicht, weil die Anwendbarkeit von § 27 AsylG stets voraussetzt, dass die Flucht im Drittstaat beendet war (Vogt/Nestler, in: Huber/Mantel, Aufenthaltsgesetz/Asylgesetz, 3. Aufl. 2021, § 27 AsylG Rn. 2). Dies kann bei dem nur zweitägigen Aufenthalt des Klägers in Kolumbien erkennbar nicht angenommen werden. [...]

37 II. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG. [...]

50 Nach dieser Regelung ist ein Ausländer nicht Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG, wenn er von den zuständigen Behörden des Staates, in dem er seinen Aufenthalt genommen hat, als Person anerkannt wird, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat.

51 Dies ist hier nicht der Fall. In Kolumbien hat der Kläger schon keinen Aufenthalt genommen. Eine Begründung des gewöhnlichen Aufenthalts ist nur dann anzunehmen, wenn die Person in dem betreffenden Land tatsächlich ihrem Lebensmittelpunkt gefunden hat, dort also nicht nur vorübergehend verweilt, ohne dass die zuständigen Behörden aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen ihn einleiten [...]. Letzteres war in Kolumbien nicht der Fall, denn der Kläger hielt sich dort im Rahmen seiner Flucht nur für zwei Tage auf, bevor er sodann nach El Salvador weiterreiste. Bezogen auf El Salvador und Guatemala mag zwar angesichts seiner dortigen Verweildauer von jeweils mehreren Monaten von einer Aufenthaltnahme des Klägers auszugehen sein. Jedoch wurde er dort nicht, wie von § 3 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 AsylG gefordert, als Person anerkannt, welche die Rechte und Pflichten, die mit dem Besitz der Staatsangehörigkeit dieses Staates verknüpft sind, beziehungsweise gleichwertige Rechte und Pflichten hat. Stattdessen hielt sich der Kläger in beiden Ländern illegal auf (s.o.).

52 c. Der Kläger ist schließlich auch nicht deshalb von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen, weil er die Möglichkeit haben könnte, die kolumbianische Staatsangehörigkeit für sich in Anspruch zu nehmen. [...]

53 aa. Insofern erscheint bereits zweifelhaft, ob die Regelung – wie von der Beklagten angenommen – tatsächlich dahingehend zu verstehen ist, dass sie den Verweis einer schutzsuchenden Person auf einen Drittstaat bereits dann zulässt, wenn die Person die Staatsbürgerschaft des betreffenden Staates noch gar nicht innehat, sondern nur erwerben kann. Der Wortlaut der Regelung, der verlangt, dass der  Schutzsuchende die "Staatsangehörigkeit […] für sich geltend machen könnte", ist insoweit offen. Auch die Erwägungsgründe der Richtlinie treffen hierzu keine Aussage. In systematischer Hinsicht spricht für ein Abstellen auf nur tatsächlich erworbene Staatsbürgerschaften, dass auch den Regelungen in Art. 2 lit. d und n, Art. 4 Abs. 2, Art. 11 Abs. 1 lit. a, b, c, Abs. 3 und Art. 16 Abs. 3 Qualifikationsrichtlinie ein solches (enges) Verständnis zugrunde zu liegen scheint. Ebenfalls in diese Richtung deutet auch eine am Regelungsgehalt der GFK orientierte Auslegung der Richtliniennorm. Denn auch Art. 1 A Nr. 2 Satz 2 GFK sieht vor, dass nur in Fällen, in denen eine Person "ohne triftige, auf wohlbegründeter Furcht beruhende Ursache sich des Schutzes eines der Staaten, dessen Staatsangehöriger er ist, nicht bedient" [Hervorhebung nur hier], er nicht als eine Person angesehen werden soll, der der Schutz des Heimatlandes versagt worden ist. Viel spricht vor diesem Hintergrund dafür, die Regelung in Art. 4 Abs. 3 lit. e Qualifikationsrichtlinie allein als behördlichen Prüfauftrag zu verstehen, der sich im Hinblick auf Art. 1 A Nr. 2 GFK insbesondere auf das Erfordernis von Ermittlungen hinsichtlich des Besitzes mehrfacher Staatsangehörigkeiten bezieht [...].

54 Selbst wenn man der Regelung in Art. 4 Abs. 3 lit. e Qualifikationsrichtlinie jedoch – der Beklagten folgend – einen weitergehenden Regelungsgehalt dahingehend zusprechen wollte, dass sie auch solche Konstellationen erfasst, in denen der Schutzsuchende die Staatsangehörigkeit des Drittstaates noch nicht innehat, sie aber potentiell erwerben kann, dürfte die Regelung im deutschen Asylverfahren jedenfalls nicht anwendbar sein. Denn es mangelt insoweit an einer inländisch unmittelbar anwendbaren Umsetzungsnorm. Weder im Asylgesetz noch in den sonstigen einschlägigen ausländer- oder aufenthaltsrechtlichen Regelungen findet sich eine entsprechende ausdrückliche Regelung. Auch ist kein Umsetzungswille des deutschen Gesetzgebers erkennbar, der Anlass dafür bieten würde, die vorhandenen Regelungen des Asylgesetzes erweiternd in der von der Beklagten aufgezeigten Form auszulegen [...]. Denn ausweislich der Gesetzesbegründung des Umsetzungsgesetzes zur Qualifikationsrichtlinie zielte die damalige Reform gerade darauf ab, den Flüchtlingsbegriff dem Regelungsgehalt des Art. 1 A GFK anzupassen (vgl. BT-Drs. 17/13063, S. 19). Art. 1 A GFK enthält aber keinen Regelungsgehalt, der dem entspräche, was die Beklagte dem Art. 4 Abs. 3 lit. e Qualifikationsrichtlinie entnehmen will, namentlich die Möglichkeit eines Ausschlusses der Zuerkennung internationalen Schutzes in Fällen des bloß möglichen Erwerbs einer noch nicht besessenen Staatsangehörigkeit (s.o.). [...]

56 Eine unmittelbare Anwendung der Richtliniennorm zu Lasten des Klägers schließlich, mit der die Reichweite des internationalen Schutzes gemäß §§ 3 ff. AsylG letztlich eingeschränkt werden würde, verstieße gegen den rechtsstaatlichen Vorbehalt des Gesetzes [...].

57 bb. Die Frage, ob Art. 4 Abs. 3 lit. e Qualifikationsrichtlinie überhaupt einen Ausschlussgrund darstellt und ob dieser im deutschen Recht Anwendung finden könnte, kann hier aber letztlich offenbleiben. Denn jedenfalls sind vorliegend auch die weiteren Voraussetzungen des Art. 4 Abs. 3 lit. e Qualifikationsrichtlinie nicht erfüllt. Wie die Richtlinienregelung selbst zum Ausdruck bringt, ist der Verweis auf eine andere Staatsangehörigkeit nur dann zulässig, wenn von der schutzsuchenden Person "vernünftigerweise erwartet werden kann", den Schutz des betreffenden Staates für sich in Anspruch zu nehmen. Nicht ausreichend ist danach die bloß abstrakt-theoretische Möglichkeit, eine fremde Staatsbürgerschaft in Anspruch zu nehmen, weil die gesetzlich definierten Voraussetzungen erfüllt sind. Erforderlich ist vielmehr eine weitergehende Zumutbarkeitsprüfung, die sowohl an die allgemeine Lage in dem betreffenden Staat als auch an die individuellen Umstände der schutzsuchenden Person anzuknüpfen hat. Ein Verweis auf den betreffenden Drittstaat kommt danach zum einen dann nicht in Betracht, wenn keine hinreichenden Informationen zur dortigen Verwaltungspraxis vorliegen oder die Durchsetzung des Anspruchs auf die dortige Staatsangehörigkeit an sonstigen praktischen Hürden zu scheitern droht [...]. Denn anderenfalls liefe der Schutzsuchende Gefahr, sowohl in dem Staat der Asylantragstellung als auch in dem Drittstaat abgewiesen und im Ergebnis de facto schutzlos gestellt zu werden. Ebenso kommt ein Verweis auch auf solche Staaten nicht in Betracht, wo dem Schutzsuchenden – wie auch bei der inländischen Fluchtalternative (§ 3e AsylG bzw. Art. 8 Qualifikationsrichtlinie) – kein wirksamer Schutz vor Verfolgung geboten wird, er dort sein Existenzminimum nicht sichern kann oder sonst die Voraussetzungen für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen [...]. Ebenso wird man den Schutzsuchenden aber auch dann nicht "vernünftigerweise" auf die Inanspruchnahme der Staatsangehörigkeit und des Schutzes eines Drittstaates verweisen können, wenn die Person zu diesem Drittstaat keinerlei persönliche Verbindung hat. Alles andere wäre mit den staatsbürgerlichen Pflichten, die vielerorts mit der Annahme der Staatsbürgerschaft einhergehen (einschließlich etwa der Pflicht zum Militär- und Wehrdienst), nicht vereinbar. [...]

60 Es ist jedoch nicht ersichtlich, dass der Kläger auch in der Lage wäre, einen etwaigen Rechtsanspruch auf die kolumbianische Staatsbürgerschaft mit hinreichender Sicherheit praktisch durchsetzen zu können. Dem Vorbringen der Beklagten sind insoweit keine aussagekräftigen Anhaltspunkte zu entnehmen. Der Vortrag, der Kläger verfüge über alle notwendigen Nachweise (eigene Geburtsurkunde, Abstammungsnachweis, Staatsbürgerschaftsnachweis betreffend den Vater [...] oder könne diese unproblematisch beschaffen, erschöpft sich in einer bloßen Vermutung. Dem steht entgegen, dass nach dem Vortrag des Klägers dessen Vater mittlerweile über 80 Jahre alt sei, seit über 50 Jahren in Venezuela lebe und er nur selten, geschweige denn direkt, mit ihm in Kontakt stehe. Auch erhielt der Prozessbevollmächtigte des Klägers nach eigenen Angaben selbst auf direkte Nachfrage bei dem kolumbianischen Konsulat keine tragfähigen Informationen zu den Möglichkeiten des Staatsangehörigkeitserwerbs seines Mandanten. Stattdessen verwies man ihn auf die durch die aktuelle politische Lage in Kolumbien bedingten Unwägbarkeiten in einem solchen Verfahren. [...]

63 III. Darüber hinaus hat der Kläger auch einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Denn ausgehend von den obigen Ausführungen droht dem Kläger in seinem Heimatstaat Venezuela politische Verfolgung im Sinne des Art. 16a Abs. 1 GG. Der Anspruch auf Asylanerkennung ist auch nicht nach Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. § 26a AsylG ausgeschlossen, weil der Kläger weder durch einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union noch durch einen in der Anlage 1 zum Asylgesetz genannten sicheren Drittstaat nach Deutschland eingereist ist (s.o.). [...]