VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 16.06.2023 - 39 L 244/23 A - asyl.net: M31685
https://www.asyl.net/rsdb/m31685
Leitsatz:

Aufschiebende Wirkung wegen möglichen Abschiebungsverbots für LSBTIQ-Person hinsichtlich Türkei:

Aufgrund der Erkenntnisgrundlage hinsichtlich der Türkei ist es beachtlich wahrscheinlich, dass die antragstellende Person dort erniedrigender Behandlung ausgesetzt wäre und ihr Existenzminimum nicht durch Erwerbstätigkeit sichern können würde.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Türkei, transsexuell, sexuelle Orientierung, LSBTI, LGBTI, vulnerabel, offensichtlich unbegründet
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, EMRK Art. 3, VwGO § 80 Abs. 5, AsylG § 36 Abs. 1, AsylG § 36 Abs. 3
Auszüge:

[...]

4 Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der Europäischen Menschenrechtskonvention unzulässig ist (BVerwG, Urteil vom 4. Juli 2019 – 1 C 45/18 – Rn. 11, juris). Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Im Falle einer Abschiebung wird eine Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 3 EMRK dann begründet, wenn erhebliche Gründe für die Annahme bestehen, dass der Betroffene im Fall der Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu sein. [...]

6 An diesem Maßstab gemessen bestehen bei einer Gesamtbetrachtung der Lage für lesbische, schwule, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen (LGBTI) in der Türkei und unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der antragstellenden Person ernstliche Zweifel an der Feststellung des Bundesamts, dass deren Abschiebung in die Türkei keinen Verstoß gegen § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art. 3 EMRK begründet.

7 Ausweislich der Erkenntnislage des Gerichts ist es in Großstädten (Istanbul, Izmir, Ankara) und an der Südküste in bestimmten Bereichen möglich, Homo- und Transsexualität zu zeigen. Außerdem besteht für Transsexuelle die Möglichkeit eines gesetzlichen Geschlechtswechsels im türkischen Recht. Darüber hinaus sind Homo- und Transsexualität gesellschaftlich jedoch nicht akzeptiert. Bei Bekanntwerden ihrer sexuellen Orientierung werden Homosexuelle, vor allem aber Transsexuelle häufig von ihrem sozialen und beruflichen Umfeld ausgegrenzt oder belästigt und nicht selten Opfer von Gewalt und Diskriminierung. Die türkische Verfassung schützt sowohl das Recht auf freie Meinungsäußerung, als auch die Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit – ohne LGBTI-spezifische Einschränkungen. Gleichwohl werden vor allem Generalklauseln über "öffentliche Moral und Ordnung" als repressives Mittel genutzt, um die Rechte von LGBTI-Personen und -Organisationen einzuschränken. Körperliche Angriffe und Hassverbrechen, die sich vorrangig gegen Transgender-Personen richten, haben zuletzt zugenommen. Die Türkei gehört zu den Ländern mit den höchsten Mordraten an Transgender-Personen. Diskriminierende Äußerungen und Hassreden von Regierungsvertretern und Medien gegen die LGBTIQ-Gemeinschaft haben ebenfalls zugenommen. Hochrangige Staatsbeamte beriefen sich regelmäßig auf nationale und moralische Werte, während sie die sexuellen Minderheiten ins Visier nahmen. Es gibt keine spezifischen Gesetze zur Bekämpfung dieser Verbrechen. Es besteht ein begrenzter Schutz für Organisationen sexueller Minderheiten, die bedroht werden. LGBTI-Aktivist*innen sehen sich verstärkt mit Anklagen und Gerichtsprozessen konfrontiert. Zwar ist positiv zu vermerken, dass es in Verfahren auch im vergangenen Jahr Freisprüche gab, allerdings führt bereits die Anklage zur Stigmatisierung und Einschüchterung. Veranstaltungen von LGBTI-Organisationen werden regelmäßig mit Verweis auf den Schutz der öffentlichen Sicherheit und Gefährdung der Versammlungsteilnehmer verboten. Diskriminierung von LGBTI-Personen ist weit verbreitet – auch von institutioneller Seite. Der Zugang zu Wohnraum, Beschäftigung, Gesundheitsversorgung und Bildung ist häufig nur eingeschränkt vorhanden. Zudem sind Fälle bekannt, in denen Personen aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ihren Arbeitsplatz verloren haben – sowohl in der öffentlichen Verwaltung, als auch in der Privatwirtschaft. Beschwerden oder Klagen werden aufgrund des repressiven Klimas nur selten eingereicht (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei vom 28. Juli 2022 [im Folgenden: AA Lagebericht 2022], S. 12 f; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation der Staatendokumentation – Türkei vom 10. März 2022 [im Folgenden: BFA Länderinformation Türkei 2022], S. 172 ff.).

8 Auf dieser Erkenntnisgrundlage ist nach der im Eilverfahren gebotenen summarischen Prüfung unter Berücksichtigung der individuellen Umstände davon auszugehen, dass die antragstellende Person in der Türkei mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit erniedrigenden Behandlungen ausgesetzt wäre und ihr Existenzminimum durch Erwerbstätigkeit dort nicht würde sichern können. [...]

11 Dass diese bundesdeutsche Vita nach § 3 Abs. 4 Alt. 1 in Verbindung mit § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG zur Asylunwürdigkeit führt, steht außer Zweifel. Für die hier allein streitgegenständliche Frage der Feststellung von Abschiebungsverboten spielt dies aus Rechtsgründen jedoch keine Rolle (vgl. § 60 Abs. 8 AufenthG). Vielmehr ist bei diesem Lebenslauf realistischerweise davon auszugehen, dass die antragstellende Person in der Türkei, wo sie praktisch überhaupt nicht verwurzelt ist, absehbar verelenden wird. Wegen der dort bestehenden Diskriminierungen bezüglich der Geschlechtsidentität, der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsmerkmale ist es für LGBTI+-Personen in der Türkei ohnehin schwierig, Zugang zu (legalen) Beschäftigungsmöglichkeiten zu finden. Sie sind oft gezwungen, ihre Identität zu verbergen, um das Risiko der Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Da das Risiko, diskriminiert zu werden, auch nach dem Einstellungsprozess weiter besteht, bestimmt diese Strategie ihr gesamtes Arbeitsleben (BFA Länderinformation Türkei 2022, S. 172 ff.). Bei der antragstellenden Person kommen fehlende Sprachkenntnisse, mangelnde Ausbildung und vor allem die bislang nicht bewältigte ausgeprägte Suchtproblematik erschwerend hinzu. Mit Unterstützungsleistungen des Vaters ist prognostisch nicht zu rechnen, da dieser sich wegen deren Transsexualität bereits in der Kindheit von der antragstellenden Person losgesagt und den Kontakt nach der Rückkehr in die Türkei abgebrochen hat. Nach alldem ist damit zu rechnen, dass sie auf (legalem) Weg ihren Lebensunterhalt auch unter Berücksichtigung bestehender Rückkehrhilfen (vgl. dazu Lagebericht 2022, S. 20) nicht wird sichern können, sondern sich erneut prostituieren und/oder Beschaffungskriminalität begehen wird. [...]