VG Braunschweig

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Zitieren als:
VG Braunschweig, Urteil vom 05.06.2023 - 2 A 222/19 (Asylmagazin 9/2023, S. 310 ff.) - asyl.net: M31675
https://www.asyl.net/rsdb/m31675
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für einen vorverfolgt ausgereisten iranischen Staatsangehörigen wegen exilpolitischer Aktivitäten:

1. Das Kriterium der exponierten Stellung in einer regimefeindliche Organisation kann nicht abschließend über die Frage drohender Verfolgung aufgrund exilpolitischer Aktivitäten entscheiden, weil dieser Maßstab bedenklich vage ist und von aktuellen Erkenntnismitteln nicht bestätigt wird.

2. Maßgeblich ist vielmehr die Frage, ob eine Person sich ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt und ob diese Betätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck der regimekritischen Haltung für ihre Identität so wichtig ist, dass sie den Drang verspüren würde, sich aktiv an regimekritischen Protesten zu beteiligen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, politische Verfolgung, Exilpolitik, Soziale Medien, Demonstrationen, Nachfluchtgründe
Normen: AsylG § 3
Auszüge:

[...]

Dem Kläger steht im hier maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (vgl. § 77 Abs. 1 AsylG) ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu. [...]

Unabhängig von der Vorverfolgung des Klägers ist die Einzelrichterin im Übrigen überzeugt davon, dass er anknüpfend an seine exilpolitische Betätigung in Deutschland auch im Iran politisch aktiv bleiben würde und deswegen mit Inhaftierung und Misshandlung durch die Sicherheitsbehörden zu rechnen hätte.

Der Kläger schilderte in der mündlichen Verhandlung, dass er mit großer Regelmäßigkeit an Demonstrationen gegen das iranische Regime teilnehme. Er spende den Veranstaltern Geld und organisiere Busse oder Zugverbindungen, um mit anderen Iranern aus C-Stadt auch zu Demonstrationen in weiter entfernten Städten wie München, Hamburg oder Köln reisen zu können. Bei Demonstrationen in C-Stadt beteilige er sich auch aktiv an der Organisation, etwa bei der Auswahl des Veranstaltungsorts oder beim Entwurf von Plakaten. Seine Teilnahme an den Demonstrationen sei auch schon in der Presse dokumentiert worden. Tatsächlich findet sich ein Foto des Antragstellers online in einem Bericht der Times of Israel vom … 2021 mit der Unterschrift "Demonstranten … gegen das iranische Regime…" (übersetzt mit DeepL-Translator) (https://www.timesofisrael.com/.../). Ein weiteres Foto, auf dem der Kläger auf einer Demonstration Fotos von zwei bedrohten Aktivisten aus dem Iran in der Hand hält, sind enthalten in einem Artikel der Online-Ausgabe der Times vom … 2020 (https://www.the-times.co.uk/...).

Darüber hinaus beschrieb der Kläger umfassend seine regime- und islamkritischen Aktivitäten auf verschiedenen Internetplattformen wie Instagram, Facebook, Twitter und Clubhouse sowie in Chatgruppen bei Telegram. Er gab an, auf Instagram über 15.000 Follower zu haben und zeigte die Seite in der mündlichen Verhandlung auf seinem Smartphone vor. Möglicherweise handelte es sich dabei um das nach Angaben des Klägers mittlerweile gesperrte Instagram-Profil, zumindest war es in der Google-Recherche nicht mehr auffindbar. Der Kläger ergänzte, dass er auf Instagram auch bereits massiven Anfeindungen durch ihm unbekannte Personen ausgesetzt gewesen sei und legte Aus-drucke entsprechender Chatprotokolle vor, in welchen Personen Beleidigungen und Bedrohungen äußern. Auf Twitter ist der Kläger jedenfalls nachweislich seit November 2020 mit mittlerweile 156 Followern unter seinem Klarnamen aktiv und teilt und verbreitet dort seither ersichtlich regimekritische Inhalte (https://twitter.com/..., aufgerufen am 05.06.2023). Zugleich räumte der Kläger ein, das Auftreten nach außen als Organisator von Demonstrationen und die Anmeldung bei der Polizei überlasse er lieber Iranern, deren Deutschkenntnisse besser seien als seine eigenen.

Weil der Kläger somit in Deutschland, abgesehen von seinen umfangreichen Online-Aktivitäten, vorwiegend entweder als bloßer Teilnehmer von regimekritischen Demonstrationen in Erscheinung getreten ist oder organisatorische Tätigkeiten im Hintergrund ausgeführt hat, ist fraglich, ob man davon sprechen kann, dass er "in exponierter Weise" oder "in herausgehobener Stellung" für eine regimefeindliche Organisation auftritt, wie es die herrschende Rechtsprechung voraussetzt, um einem iranischen Antragsteller Flüchtlingsschutz wegen exilpolitischer Betätigung zuzuerkennen (so etwa VG Aachen, Urteil vom 05.12.2022 – 10 K 2406/20.A -, juris Rn. 50; VG Düsseldorf, Urteil vom 27.04.2023 - 9 K 3234/21.A -, juris; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.08.2019 - 6 A 300/19.A -, juris Rn. 14; Nds. OVG, Urteil vom 20.01.2009 - 4 LA 216/07, 5147974 -, juris). Richtigerweise kann es darauf aber auch nicht ankommen. Der Maßstab der "exponierten Stellung" ist bedenklich vage und wird von aktuellen Erkenntnismitteln nicht bestätigt. Er steht ferner im Widerspruch zu den in der Rechtsprechung anerkannten Voraussetzungen der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus für zum Christentum konvertierte Iraner oder von "Verwestlichung" betroffene Iranerinnen. Soweit die Anforderung der "exponierten Stellung" vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen im Iran überhaupt beibehalten werden sollte, kann sie jedenfalls nicht abschließend über die Frage drohender Verfolgung aufgrund politischer Aktivitäten entscheiden, weil sie prognostische Elemente weitgehend außer Acht lässt.

Das Kriterium der exponierten Stellung ist deswegen zu ungenau, weil sich kaum fest-stellen lässt, was es aus Sicht der iranischen Sicherheitsbehörden braucht, damit sich eine politisch aktive Person "aus der Masse der mit dem iranischen Regime Unzufriedenen heraushebt". So führt auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen aus, es ließe "sich nicht allgemein beantworten, welche Anforderungen dabei in tatsächlicher Hinsicht an eine exilpolitische Tätigkeit gestellt werden müssen, damit sie in diesem Sinne als exponiert anzusehen ist" (OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.08.2019 - 6 A 300/19.A -, juris Rn. 14). Ein Iraner, welcher sich in der deutschen Gemeinde, in der er wohnt, regelmäßig und aktiv an politischen Aktionen beteiligt, wird in der dortigen iranischen Community voraussichtlich gut bekannt und damit "exponiert" sein. Das heißt aber noch nicht zwingend, dass sein Engagement auch von den iranischen Sicherheitsbehörden wahrgenommen wird und dass diese ihn aufgrund dessen als ernsthaften und gefährlichen Regimegegner einstufen, solange er im Iran noch keine vergleichbaren Aktivitäten entfaltet hat. Auch wenn Gerichte den Maßstab durch Kriterien wie öffentliche Aktivitäten, namentliche Kennzeichnung von Publikationen, das Auftreten als Organisator von Demonstrationen, Kundgebungen und Veranstaltungen, Dauer, Kontinuität und Intensität der Aktivitäten zu konkretisieren versuchen (so VG Ansbach, Urteil vom 20.04.2023 - AN 10 K 19.30283 -, juris Rn. 66; VG Würzburg, Urteil vom 31.01.2022 - W 8 K 21.31264 -, juris Rn. 48), bleibt es bei Anwendung dieses Maßstabs dem entscheidenden Gericht überlassen, weitgehend ungesicherte Spekulationen über die mutmaßliche Wahrnehmung und Bewertung dieser Aktivitäten durch die iranischen Sicherheitskräfte anzustellen.

Außerdem lässt sich aktuellen Erkenntnismitteln entnehmen, dass die iranischen Sicherheitsbehörden spätestens seit dem Ausbruch der Proteste im Iran im Jahr 2022 einen weiteren Maßstab bei der Beobachtung und Verfolgung potenzieller Regimegegner anlegen (ebenso VG Würzburg, Urteil vom 20.03.2023 - W 8 K 22.30683 -, juris Rn. 28). Das Vorgehen der Sicherheitsbehörden und der Justiz im Iran ist oftmals willkürlich [...]. Dementsprechend geben sowohl das Auswärtige Amt als auch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl Österreichs in ihren aktuellen Berichten die Einschätzung ab, dass Iraner, welche im Ausland leben und sich dort öffentlich regimekritisch äußern, von Repressionen bedroht sind – ohne dabei eine einschränkende Aussage zur notwendigen Intensität der politischen Betätigung zu treffen [...]. Nach Angaben der EU-Geheimdienste sind Vertreter des iranischen Geheimdienstministeriums und der al-Quds-Brigaden in Europa präsent und halten die iranische Diaspora unter genauer Beobachtung.[...]. Demnach erscheint es auch ungerechtfertigt, politisches Engagement nur dann als asylrechtlich relevant zu betrachten, wenn der Betroffene für eine regimefeindliche Organisation auftritt. Zweifellos ist es im Zeitalter des Internets auch möglich, größere Personenkreise zu erreichen und deren politische Meinung zu beeinflussen, ohne dabei in eine feste Organisationsstruktur eingebunden zu sein und als Vertreter einer bestimmten politischen Gruppierung aufzutreten. [...]

Maßgeblich für die Frage, ob ein Iraner bei einer Rückkehr in den Iran mit Verfolgung wegen seiner politischen Überzeugung rechnen müsste, ist folglich, ob dieser sich in Deutschland ernsthaft, offen und kontinuierlich regimekritisch betätigt und ob diese Bestätigung die Annahme rechtfertigt, dass der freie Ausdruck seiner regimekritischen Haltung für die Identität des Betroffenen so wichtig ist, dass er auch bei einer Rückkehr in den Iran den Drang verspüren würde, sich aktiv an regimekritischen Protesten zu beteiligen. Denn wenn man davon ausgehen muss, dass der jeweilige Kläger sich den Pro-testen offen anschließen würde, so ergibt sich daraus – insoweit unabhängig von den in der Vergangenheit liegenden exilpolitischen Aktivitäten – die ernsthafte Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung durch die iranischen Sicherheitsbehörden. [...]

Die Einzelrichterin ist, zum einen aufgrund der nachgewiesenen exilpolitischen Aktivitäten des Klägers in Deutschland, zum einen aufgrund des persönlichen Eindrucks von dem Kläger in der mündlichen Verhandlung, überzeugt davon, dass der offene und aktive Einsatz für Freiheit und Menschenrechte für ihn Ausdruck einer ernsthaften Gewissensentscheidung und einer tiefgehenden politischen Überzeugung ist und ihn in seiner Identität prägt. Gerade zu einem Zeitpunkt, in dem sich sein Heimatland in einem politischen Umbruch befindet, besteht kein vernünftiger Zweifel daran, dass der Kläger sich auch bei einer Rückkehr in den Iran mit den verfolgten Regimegegnern solidarisch zeigen und sich an den anhaltenden Protesten beteiligen würde. Dafür spricht auch, dass der Kläger sich bereits vor seiner Ausreise, ungeachtet drohender Repressionen und des Unverständnisses seiner Angehörigen, über lange Jahre immer wieder regimekritisch geäußert und oppositionelle Schriften verbreitet hat, wenn auch nur online und in Vier-Augen-Gesprächen. An diese Betätigung hat er sodann nach seiner Einreise nach Deutschland angeknüpft und seine Aktivitäten, unter dem hiesigen Schutz der Meinungs- und Versammlungsfreiheit, ausgeweitet. Der Kläger hat sich in der Vergangenheit von Anfeindungen irantreuer Mitbürger und der Bedrohung durch die iranischen Sicherheitskräfte nicht einschüchtern lassen und vermittelte eine große Entschlossenheit, seine Aktivitäten auch in Zukunft nicht reduzieren zu wollen. Demnach kann dem Kläger nicht zugemutet werden, in den Iran zurückzukehren, wo er seine politischen Überzeugungen in dem Maße, wie es ihm sein Gewissen gebietet, nur noch unter Lebensgefahr ausleben könnte. [...]