VG Karlsruhe

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Zitieren als:
VG Karlsruhe, Urteil vom 01.02.2023 - 19 K 1832/21 - asyl.net: M31671
https://www.asyl.net/rsdb/m31671
Leitsatz:

Zweifel an Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung setzen tatsächliche Anhaltspunkte voraus:

"1. Das Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung in § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG [...] ist ein materielles Tatbestandsmerkmal; die hierzu abgegebene Erklärung des Einbürgerungs­bewerbers muss von einer inneren Hinwendung zur Verfassungsordnung getragen sein (Rn. 32).

2. Zweifel an der Richtigkeit der Erklärung setzen allerdings voraus, dass tatsächliche Anhaltspunkte für den Kontakt zu verfassungsfeindlichen Organisationen oder Aktivitäten bestehen (Rn. 39).

3. Zu Zweifeln am Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung beim Kontakt zur Deutschen Muslimischen Gemeinschaft (DMG, bis 2018 IGD) (Rn. 51)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Einbürgerung, freiheitliche demokratische Grundordnung, Bekenntnis, Deutsche Muslimische Gemeinschaft,
Normen: StAG § 10 Abs. 1 S. 1 Nr. 1,
Auszüge:

[...]

26 2. Der Kläger erfüllt die Voraussetzung eines Bekenntnisses zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung des Grundgesetzes für die Bundesrepublik Deutschland nach § 10 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 StAG nach Überzeugung der Kammer nicht.

27 a) Welche Anforderungen an das Bekenntnis zu stellen sind, ist in Literatur und Rechtsprechung umstritten.

28 aa) Nach einer Auffassung ist das Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung eine materielle Voraussetzung in dem Sinn, dass auch die inhaltliche Richtigkeit im Sinne einer "inneren Hinwendung" zur Verfassungsordnung zur Überzeugung des Gerichts feststehen muss. Die Regelung diene dazu, die Einbürgerung von Verfassungsfeinden zu verhindern (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 20.02.2008 – 13 S 1169/07 – juris, Rn. 26 f.; VG Stuttgart, Urt. v. 20.04.2015 – 11 K 5984/14 – juris; Urt. v. 07.01.2019 – 11 K 2731/18 – juris; VG Aachen, Urt. v. 19.11.2015 – 5 K 480/14 – juris; Dollinger/Heusch, VBlBW 2006, 216, 218; zuletzt offen gelassen von BVerwG, Beschl. v. 04.07.2016 – 1 B 78.16 – juris, Leitsatz; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 25.04.2017 – 12 S 2216/14 – juris, Rn. 35 f.). Dem entsprechend müsse anhand der Angaben eines Einbürgerungsbewerbers zu verschiedenen Themen, die sein Verhältnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung betreffen, in einem Gespräch bei der Behörde oder ergänzend in der mündlichen Verhandlung geprüft werden, ob daraus die innere Hinwendung positiv festgestellt werden kann, und andernfalls die Klage abgewiesen werden (vgl. beispielhaft zu einer solchen Befragung VG Stuttgart, Urt. v. 20.04.2015 – 11 K 5984/14 – juris).

29 bb) Nach der Gegenansicht handelt es sich bei dem Bekenntnis zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung um eine formelle Voraussetzung (vgl. Geyer, in: NK-AuslR, 3. Aufl. 2023, § 10 StAG Rn. 27; VG Köln, Urt. v. 13.04.2011 – 10 K 201/10 – juris, Rn. 41 ff.; VG München, Urt. v. 29.06.2011 – M 25 K 10.3434 – juris, Rn. 21; VG Hamburg, Beschl. v. 22.02.2016 – 19 E 6426/15 – juris, Rn. 6; VG Hannover, Urt. v. 09.11.2021 – 10 A 1119/19 – juris, Rn. 25; einschränkend Berlit, in: GK-StAR, § 10 StAG Rn. 135 ff.). Dafür wird insbesondere das systematische Argument des Verhältnisses zum Ausschlussgrund des § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG angeführt, dem bei einem materiellen Verständnis des Bekenntnisses kein eigener Anwendungsbereich verbleibe (vgl. Berlit, a. a. O., Rn. 137; VG Köln, a. a. O.).

30 Als Konsequenz ist bei einem rein formellen Verständnis bei der dokumentierten Abgabe der Bekenntniserklärung durch den Einbürgerungsbewerber ohne Willensmängel – wie vorliegend – das Bekenntnis erfüllt, und es verbleibt kein Raum für eine weitere Prüfung.

31 cc) Schließlich wird in der Literatur eine vermittelnde Position vertreten (vgl. Berlit, a. a. O., Rn. 135 ff.), der sich die Kammer anschließt. [...]

37 Gegen das Verständnis einer voll überprüfbaren materiellen Voraussetzung wird im Ansatz zu Recht eingewendet, dass dann dem Einbürgerungsausschluss nach § 11 Satz 1 Nr. 1 StAG kein eigener Anwendungsbereich verbleibt. Denn wer nachweislich verfassungsfeindliche Bestrebungen unterstützt oder sich von der früheren Unterstützung nicht glaubhaft distanziert, dem wird auch ein glaubhaftes Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung regelmäßig nicht gelingen. Andererseits erscheint auch ein rein formelles Verständnis systematisch wenig sinnvoll, da sich der Sinn der Voraussetzung einer rein formellen Erklärung ohne materiellen Erklärungsgehalt nicht erschließt.

38 (4) Nach alledem erscheint allein ein vermittelndes Verständnis geeignet, zugleich der Systematik der §§ 10, 11 StAG gerecht zu werden und dem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung einen eigenständigen Zweck als Einbürgerungsvoraussetzung zu geben.

39 Demnach muss das Bekenntnis inhaltlich zutreffen und setzt voraus, dass die Erklärung auch von einer inneren Hinwendung zur Verfassungsordnung getragen ist. Zweifel an der Richtigkeit und damit die Notwendigkeit einer inhaltlichen Prüfung setzen jedoch tatsächliche Anhaltspunkte für eine fehlende innere Hinwendung voraus. Dies beugt einer freischwebenden "Gewissensprüfung" und der damit verbundenen Gefahr einer diskriminierenden Behandlung vor und lässt sich mit einer Richtigkeitsvermutung zugunsten der formellen Abgabe des Bekenntnisses begründen (vgl. Berlit, a.a.O., Rn. 135).

40 Die tatsächlichen Anhaltspunkte müssen nicht die Qualität einer Unterstützung verfassungsfeindlicher Bestrebungen wie in § 11 Satz 1 StAG aufweisen. Hierbei kann der Kontakt zu verfassungsfeindlichen Organisationen oder Aktivitäten genügen, beispielsweise die Mitgliedschaft in Organisationen mit "Doppelcharakter" [...] oder der nachgewiesene Kontakt zu verfassungsfeindlichen Organisationen [...]. Dies eröffnet einen Graubereich der Einzelfallprüfung, die gerade dem erklärten Ziel des Gesetzgebers, eine innere Hinwendung des Einzubürgernden zur Verfassungsordnung sicherzustellen, entspricht, ohne zugleich alle Bewerber einem Generalverdacht und einer "inquisitorischen" Gewissenserforschung zu unterwerfen. [...]