VG Frankfurt/Oder

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Zitieren als:
VG Frankfurt/Oder, Urteil vom 10.03.2023 - 5 K 1660/20.A - asyl.net: M31668
https://www.asyl.net/rsdb/m31668
Leitsatz:

Asyl- und Flüchtlingsanerkennung für oppositionellen Aktivisten aus dem Sudan:

1. Angesichts der schwerwiegenden Gewalt, die der Kläger vor seiner Ausreise wegen seiner politischen Aktivitäten erleiden musste und angesichts seines exilpolitischen Engagements ist davon auszugehen, dass ihm bei Rückkehr auch unter der nun herrschenden Militärregierung willkürliche Inhaftierung, Gewalt und Folter droht. Insofern kann der Kläger sich auch auf die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie (RL 2011/95/EU) berufen.

2. Aktuellen Erkenntnismitteln zufolge wurde den Polizei- und Sicherheitskräften wiederholt vorgeworfen, Führungsfiguren innerhalb der Zivilgesellschaft gezielt getötet zu haben. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Kläger durch sudanesische Sicherheitskräfte eine derartige Bedeutung beigemessen wird.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Hannover, Urteil vom 27.04.2023 - 5 A 5170/21 - asyl.net: M31533)

Schlagwörter: Sudan, Exilpolitik, politische Verfolgung, Vorverfolgung, al-Bashir, Folter,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, GG Art. 16a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[...]

Gemessen an den vorstehend geschilderten Anforderungen rechtfertigen im vorliegenden Einzelfall die vom Kläger vorgetragenen Gründe, die er im Rahmen der mündlichen Verhandlung am 10. März 2023 umfassend erläutert sowie nachvollziehbar, glaubhaft und schlüssig ergänzt hat, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. [...]

Der Kläger ist vorverfolgt ausgereist. Zu seinen Gunsten greift daher die tatsächliche Vermutung, dass sich frühere Handlungen und Bedrohungen bei einer Rückkehr in das Herkunftsland wiederholen werden [...]. Gemäß den Einlassungen des Klägers war er maßgeblich an der Demokratiebewegung beteiligt, die auch nach dem Sturz des Regimes al-Bashirs eine Demokratisierung des Sudans und den Sturz der gegenwärtigen Militärregierung anstrebt. Der Kläger war nach seinen Einlassungen führend an der Organisation von Demonstrationen gegen die vormalige Regierung al-Bashir beteiligt. [...]

Die konkrete Gefahr ist vorliegend nicht durch den Sturz der Regierung Al-Bashir beendet worden; wobei die Gefahr nunmehr von der amtierenden Militärregierung und den Sicherheitsorganen des Sudans ausgeht. Der Kläger hat sich insoweit schlüssig dahingehend eingelassen, dass er sich auch nach dem Sturz der Regierung Al-Bashir und nach Einsetzung der sog. Übergangsregierung weiter intensiv aktiv politisch engagierte, da er den vollständigen Umbau des Regierungssystems und die alleinige Übernahme der Regierung durch eine demokratisch legitimierte Zivilregierung ohne Beteiligung des Militärs fordert. Er opponierte auch nach seiner Einreise nach Deutschland aktiv gegen die Bildung einer gemeinsamen Regierung aus Militär und zivilen Kräften; er wandte sich insbesondere gegen die Regierungsbeteiligung des Militärs unter dem gegenwärtigen Herrscher General Burhan und gegen den Putsch sowie die alleinige Machtübernahme durch das Militär. [...] Es kann auch unter Berücksichtigung des Umstandes, dass dem Auswärtigen Amt bisher keine Fälle bekannt sind, in denen Rückkehrer aufgrund ihrer exilpolitischen Aktivitäten von staatlichen Stellen besonderes behandelt wurden (Lagebericht des Auswärtiges Amts vom Juni 2022, S. 14), im vorliegenden Einzelfall nicht ausgeschlossen werden, dass der Kläger im Falle einer rein hypothetischen Rückkehr in den Sudan in den Blick der Sicherheitskräfte geraten kann. Der Kläger hat insoweit schlüssig vorgetragen, dass seine Aktivitäten den sudanesischen Sicherheitskräften bekannt sind und er ... in Berlin durch sudanesische Sicherheitskräfte bedroht wurde.

Auch ist davon auszugeben, dass sich der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Sudan weiterhin engagieren und sich nach eigenen Einlassungen in herausgehobener Position an politischen Aktivitäten beteiligen würde. Gemäß den aktuellen Erkenntnissen [...] wird den Polizei- und Sicherheitskräften wiederholt vorgeworfen, Führungsfiguren innerhalb der Zivilgesellschaft gezielt getötet zu haben. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass dem Kläger durch sudanesische Sicherheitskräfte eine derartige Bedeutung beigemessen wird. Der Kläger steht nach seinen glaubwürdigen Aussagen in der mündlichen Verhandlung auch weiterhin in Opposition zur Militärregierung des Sudans und strebt die Einsetzung einer rein zivilen Regierung an. [...]

Hier besteht mithin die konkrete Möglichkeit, dass der Kläger im Falle einer hypothetischen Rückkehr in den Sudan mit willkürlicher Inhaftierung, Gewalt und Folter bedroht werden würde. [...]

Eine inländische Fluchtalternative steht dem Kläger angesichts des konkreten Sachverhaltes nicht zur Verfügung, § 3e Abs. 1 AsylG. Die bestehenden Strukturen der sudanesischen Sicherheitskräfte agieren jedenfalls hinsichtlich herausgehobener Personen im gesamten Land. [...]