Berufungszulassung zu Rückkehrbedingungen vulnerabler, als Schutzberechtigte anerkannter Personen in Italien:
Die Fragen zu den Rückkehrbedingungen von als schutzberechtigt anerkannten vulnerablen Personen (hier: Familien mit Kindern) hinsichtlich Italiens und dazu, ob eine Überstellung dorthin eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung darstellen würde, sind klärungsbedürftig.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Das vorliegende Verfahren kann dem Thüringer Oberverwaltungsgericht in dem Berufungsverfahren Gelegenheit zur weiteren Klärung der von den Klägern aufgeworfenen Fragen zu den Rückkehrbedingungen anerkannt schutzberechtigter vulnerabler Personen bei einer Überstellung nach Italien sowie der Möglichkeit einer Verletzung von Rechten aus Art. 3 EMRK und Art. 4 GRC geben bzw. zur Klärung divergierender Feststellungen beitragen.
Diese Fragestellungen sind auch einer grundsätzlichen Klärung zugänglich:
Zwar ist das Vorliegen einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC unter Beachtung aller Umstände des Einzelfalles zu prüfen. Gleichwohl kann eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRC über bloße Einzelfälle hinaus bestimmte Personengruppen generell betreffen (vgl. EuGH, Urteil vom 19. März 2019 - Rs. C-163/17 - Juris, Rn. 90; EuGH, Urteil vom 5. April 2016 - Rs. C 404/15 - Juris, Rn. 93). So geht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) von besonderer Schutzbedürftigkeit von Kindern ("extreme vulnerability") aus, unabhängig davon, ob ein Kind allein oder von seinen Eltern begleitet ist ("whether the child is alone or accompanied by his or her parents"; vgl. EGMR, Urteil vom 4. November 2014, Tarakhel v. Switzerland, Nr. 29217/12, Rn. 99). Ferner regelt Art. 21 der Richtlinie 2013/33/EU vom 26. Juni 2013 (Richtlinie zur Festlegung von Normen für die Aufnahme von Personen, die internationalen Schutz beantragen), dass die Mitgliedstaaten die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z. B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien, berücksichtigen müssen.
Ergibt sich die Vulnerabilität eines Mitgliedes eines Familienverbandes - wie vorliegend - bereits aus seinem Alter, so handelt es sich nicht mehr um bloße Umstände des Einzelfalles, sondern um eine durch allgemeine Merkmale beschreibbare Personengruppe. Deren Mitglieder finden regelmäßig dieselben Rückkehrbedingungen in Italien vor.
Die aufgeworfene Frage, ob vulnerablen Personen, die in Italien bereits einen internationalen Schutzstatus erhalten haben, bei ihrer Rückkehr dorthin eine erniedrigende oder unmenschliche Behandlung droht, wird von den Verwaltungs- und Oberverwaltungsgerichten unterschiedlich beantwortet (u. a. bejahend: Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, Urteil vom 27. März 2023 - 13 A 10948/22.OVG - Juris, Rn. 60; Verwaltungsgerichtshof Baden-Württemberg, Urteil vom 7. Juli 2022 - A 4 S 3696/21 - Juris, Rn. 40; Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16. November 2021 - 11 A 3564/20.A - Juris, Rn. 35; Hessischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 11. Januar 2021 - 3 A 539/20.A - Juris, Rn. 15; Bayerischer Verwaltungsgerichtshof, Beschluss vom 19. Oktober 2020 - 13a ZB 18.30891 - Juris, Rn. 4; u. a. verneinend: VG Bayreuth, Urteil vom 4. August 2022 - B 3 K 22.30194 - Juris, Rn. 29; VG Cottbus, Urteil vom 4. November 2021 - 5 K 1633/16.A - Juris, Rn. 46; VG Stuttgart, Urteil vom 25. Februar 2021 - A 4 K 1044/20 - Juris, Rn. 44).
Soweit die Beklagte im Zulassungsverfahren darauf hingewiesen hat, dass nach Auskunft des Liaisonbeamten in Italien an das Sächsische Oberverwaltungsgericht (vgl. Sächsisches Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 14. März 2022 - 4 A 341/20.A - Juris, Rn. 40) bei Vulnerablen eine Überstellung erst erfolge, wenn dort eine geeignete Unterkunft gefunden worden sei, so beseitigt dies nicht die Klärungsbedürftigkeit im vorliegenden Fall. Dieses Verfahren betraf keine anerkannten Schutzberechtigten, wie vorliegend, sondern sogenannte Dublin-Rückkehrer. [...]