Abschiebungsverbot für jungen Mann aus Afghanistan:
1. Es ist nicht mehr davon auszugehen, dass gesunde leistungsfähige junge Männer als Rückkehrer aus dem Ausland ohne Netzwerke ihren existenziellen Lebensunterhalt sichern können. Die allgemeinen humanitären Verhältnisse in Afghanistan würden den Kläger vielmehr in die Gefahr einer unmenschlichen Behandlung bringen.
2. Auch durch die in Afghanistan verbliebene Familie könnte der Kläger seine Existenz nicht sichern, da diese vielmehr auf die Unterstützung durch ihn angewiesen ist.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
19 Der Abschiebung des Klägers nach Afghanistan steht § 60 Abs. 5 AufenthG entgegen. [...]
20 b) Nach der aktuellen Erkenntnislage sprechen humanitäre Gründe zwingend gegen eine Abschiebung des Klägers nach Afghanistan und nach Kabul, als Ort, an dem die Abschiebung enden würde, da ihn die dort herrschenden allgemeinen humanitären Verhältnisse im engen zeitlichen Zusammenhang mit der Abschiebung in die tatsächliche Gefahr einer unmenschlichen Behandlung i. S. v. Art. 3 EMRK bringen würden (vgl. OVG Hamburg, Urt. v. 23. Februar 2022 a.a.O., Rn. 38 m.w.N.). Da die humanitären Verhältnisse weder in den anderen Großstädten Afghanistans noch im ländlichen Bereich wesentlich günstiger als in Kabul sind, steht dem Kläger keine Fluchtalternative zur Verfügung.
"Die prekäre Situation Afghanistans, die der Senat in seinem rechtskräftigen Urteil vom 18. März 2019 - 1 A 198/18.A - (juris Rn. 47 bis 82) dargestellt hat und auf die hier Bezug genommen wird (siehe auch: VGH BW, Urt. v. 11. April 2018 - A 11 S 1729/17 -, juris Rn. 150 bis 328; OVG NRW, Urt. v. 18. Juni 2019 - 13 A 3930/18.A -, juris Rn.200 bis 279; BayVGH, Urt. v. 28. November 2019 - 13a B 19.33361 -, juris Rn. 32 bis 38), hat sich infolge der Covid-19-Pandemie sowie der Einstellung der internationalen Wirtschaftshilfen und des Einfrierens des Auslandsvermögens nach der Machtübernahme der Taliban nochmals erheblich verschärft."
21 Es ist zu prognostizieren, dass es dem Kläger unter diesen Rahmenbedingungen nicht möglich sein wird, seinen existenziellen Lebensunterhalt zu sichern. [...]
22 bb) Der Kläger wird sich unter diesen Rahmenbedingungen seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht sichern können.
"Es ist nicht mehr davon auszugehen, dass gesunde und leistungsfähige junge Männer als Rückkehrer aus dem westlichen Ausland ohne familiäre oder soziale Netzwerke in der Lage sind, sich auf niedrigem Niveau jedenfalls in Kabul eine Existenzgrundlage aufzubauen können (anders noch: Senatsurt. v. 3. Juli 2018 - 1 A 215/18.A, juris Rn. 43; Senatsurt. v. 18. März 2019 a. a. O., juris Rn. 78). Angesichts der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen in den Familien vor Ort sowie dem Misstrauen bis hin zur Ablehnung, dem abgelehnte Asylbewerber aus dem westlichen Ausland in Afghanistan begegnen, kann auch die Reintegration eines Rückkehrers in einen in Afghanistan vorhandenen Familienverband nicht ohne Weiteres erwartet werden."
23 aaa) Ein nennenswertes Vermögen, das ihm für einen Zeitraum, der den Zusammenhang mit der Abschiebung auflöst, ein existenzsicherndes Auskommen in Afghanistan ermöglichen würde (vgl. nunmehr VGH BW, Urt. v. 28. März 2023 - A 11 S 3477/21 -, juris Rn. 72 ff.) besitzt der nur kurzzeitig berufstätig gewesene Kläger, der mittlerweile von Arbeitslosenhilfe lebt und weiterhin seine in Afghanistan lebende mehrköpfige Familie finanziell und durch den Versand von Medikamenten unterstützt, nach Überzeugung des Senats nicht. Ob der Kläger darüber hinaus auch Zahlungen an eine in Afghanistan lebende Verlobte leistet, wie er es erstmals im Berufungsverfahren vorgetragen hat, kann dahinstehen. Rückkehrhilfen, die dem Kläger einen Neuanfang in Afghanistan erleichtern könnten (vgl. BayVGH, Urt. v. 7. Juni 2021 a. a. O., Rn. 33 f.; VGH BW, Urt. v. 17. Dezember 2020 a. a. O, Rn. 92 bis 98), stehen ebenfalls nicht zur Verfügung. Nach den Mitteilungen im gemeinsamen Internetauftritt der Internationalen Organisation für Migration (IOM) und dem Bundesamt wird derzeit eine geförderte freiwillige Rückkehr durch die Programme REAG/GARP sowie StarthilfePlus aufgrund der anhaltend schwierigen Sicherheitslage in Afghanistan nicht unterstützt (https://www.returningfromgermany.de/de/countries/ afghanistan/).
24 bbb) Nach Überzeugung des Senats wird der Kläger keinen hinreichenden Anschluss an den Arbeitsmarkt finden. Selbst als Tagelöhner wird er allenfalls ein unterdurchschnittliches Einkommen erzielen können. [...]
26 Durch eine Wiederaufnahme in den engeren Familienverband (Eltern, Geschwister), der in Afghanistan verblieben ist, könnte der Kläger seine Existenz nicht sichern, zumal sein Vater, der früher im Polizeidienst Afghanistans tätig war - als im traditionellen Verständnis "Ernährer der Familie" - erwerbslos und krank ist, weshalb die Familie auf die Unterstützung durch den Kläger angewiesen ist. An eine erweiterte Familie (etwa einen Onkel mütterlicherseits) wird der Kläger in Afghanistan keinen Anschluss finden können, weil sie nach Pakistan ausgereist ist. Im Übrigen ist von folgenden Maßstäben auszugehen:
"Die (Wieder-) Aufnahme in einen Familienverband hätte zur Folge, dass der Kläger an den dortigen Ressourcen teilhaben kann. Je geringer die zur Verfügung stehenden Ressourcen, desto geringer ist nach den Regeln der traditionellen Sozialordnung die Erwartung, dass Verwandte mitversorgt werden. Ein Familienvater, der nicht in der Lage ist, seine Ehefrau und Kinder zu versorgen, ist nicht für die Versorgung der Familie seines Bruders zuständig (Stahlmann, Gutachten, S. 197). In der patriarchalen Gesellschaftsordnung sind zudem grundsätzlich nur die Verwandten in der väterlichen Linie verantwortlich. Frauen wechseln mit der Eheschließung von der Schutz- und Versorgungsverantwortung des Vaters und seiner Familie zu derjenigen des Ehemanns (Stahlmann, Gutachten, S. 198). … Hinzu kommt, dass Afghanistan nunmehr eine der weltweit schlimmsten Krisen in Bezug auf Ernährungssicherheit und Unterernährung erlebt (UN-Generalsekretär, Vierteljahresbericht, 28. Januar 2022, S. 10) und diese Krise in sich steigernder Weise bereits mehre Jahre andauert, was mit der Erschöpfung einer Vielzahl der Ressourcen einhergegangen ist." [...]