VG Gelsenkirchen

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Zitieren als:
VG Gelsenkirchen, Urteil vom 22.05.2023 - 15a K 2809/21.A - asyl.net: M31626
https://www.asyl.net/rsdb/m31626
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung wegen drohender Zwangsehe im Irak:

1. Eine Zwangsehe stellt eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte und eine an das Geschlecht anknüpfende Verfolgungshandlung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG dar.

2. Die Zwangsehe als Verfolgungshandlung droht der Klägerin gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG wegen der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Frauen in der irakischen Gesellschaft.

3. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG handelt es sich um Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, wenn die Verfolgung allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität der betroffenen Person anknüpft. Das setzt voraus, dass die betroffene Gruppe eine deutlich abgegrenzte Identität hat, es ist aber nicht erforderlich, dass neben die bloße Geschlechtszugehörigkeit ein weiteres externes Merkmal hinzutritt.

4. Frauen haben in der irakischen Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden (männlichen) Gesellschaft aufgrund der sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen als andersartig betrachtet werden.

5. Hilfsweise drohte der Klägerin im Irak auch Verfolgung als Angehörige der sozialen Gruppe der Frauen im heiratsfähigen Alter.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

  • Lena Ronte: Zum Begriff der frauenspezifischen Verfolgung in der aktuellen Rechtsprechung, Asylmagazin 4/2023, S. 89

Schlagwörter: Irak, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Zwangsehe, soziale Gruppe, Einzelverfolgung wegen Gruppenzugehörigkeit, Zwangsverheiratung
Normen: AsylG § 3a Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 6, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

Die der Klägerin in ihrem Herkunftsland drohende Zwangsehe stellt eine an das weibliche Geschlecht der Klägerin anknüpfende (§ 3a Abs. 2 Nr. 6 Alt. 1 AsylG) Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 1 AsylG dar. Unter § 3a Abs. 2 Nr. 6 Alt. 1 AsylG sind auch Fälle drohender Zwangsverheiratung zu fassen [...].

Die mit der Zwangsverheiratung verbundene Zwangslage liefert Frauen dauerhaft und ohne Aussicht auf Hilfe als reines Objekt den Zielen der Familienplanung (Dritter) aus. Es handelt sich um eine schwerwiegende Verletzung der Menschenrechte [...].

Die Zwangsverheiratung stellt als schwerwiegende Verletzung der Art. 3, Art. 8 Abs. 1 der und Art. 12 Abs. 1 EMRK eine Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG dar [...].

1.2. Die Verfolgungshandlung droht der Klägerin wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). [...]

Eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG). [...]

Umstritten und höchstrichterlich noch nicht geklärt ist, ob die bloße Geschlechtszugehörigkeit für die Bildung einer bestimmten sozialen Gruppe ausreicht [...] oder ein weiteres externes Merkmal hinzutreten muss, um ein Zusammenfallen von Verfolgungshandlung und -grund zu vermeiden [...].

Erforderlich sei demnach zusätzlich, dass identitätsprägende Merkmale verfolgungsbegründend bei Maßnahmen gegenüber Frauen oder einer bestimmten Kategorie von Frauen seien (Hailbronner, Ausländerrecht, Januar 2023, AsylG § 3b Rn. 31a, juris).

Die erstgenannte Auffassung ist vorzugswürdig. Gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG kann eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft, ohne dass es für die Bestimmung der Gruppe eines weiteren Merkmals neben dem des Geschlechts bedarf. Das selbstständige Erfordernis der "deutlich abgegrenzten Identität" einer Personengruppe kann durch die Zugehörigkeit der Gruppenmitglieder zu einem Geschlecht ausgelöst werden, das die sie umgebende Gesellschaft als "andersartig" betrachtet. Dies folgt unmittelbar aus der deutschen Regelung (1.2.1.). Das Unionsrecht steht dem nicht entgegen (1.2.2.). Bei Anwendung dieses Auslegungsergebnisses auf den vorliegenden Fall ist die Klägerin als zugehörig zu der bestimmten sozialen Gruppe der "Frauen in der irakischen Gesellschaft" anzusehen (1.2.3.). Die Verfolgungshandlung droht der Klägerin aber auch dann wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), wenn dafür ein weiteres erkennbares Merkmal erforderlich wäre (1.2.4.).

1.2.1. Dem Wortlaut von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG, "eine Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe kann auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht oder die geschlechtliche Identität anknüpft" (Unterstreichung nur hier), lässt sich eine notwendige Bedingung eines weiteren Merkmals neben der Geschlechtszugehörigkeit nicht entnehmen (vgl. Möller, in: Hofmann, Ausländerrecht, 3. Auflage 2023, AsylG § 3b Rn. 19). [...]

1.2.2. Die dargestellte Auslegung von § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG als Konkretisierung von § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG, die eine Annahme einer bestimmten sozialen Gruppe allein wegen des Geschlechts für möglich hält, ist mit Unionsrecht vereinbar und kann unter Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2011/95/EU gefasst werden. [...]

1.2.3. An den vorstehenden Maßstäben des § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG sowie des Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) RL 2011/95/EU gemessen ist die Klägerin als zugehörig zu der bestimmten sozialen Gruppe der "Frauen in der irakischen Gesellschaft" anzusehen.

Das Geschlecht in seiner hier maßgeblichen Bedeutung ist ein angeborenes Merkmal, das nicht verändert werden kann i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a) Alt. 1 AsylG und Art. 10 Abs. 1 Buchst. d) UAbs. 1 erster Anstrich Alt. 1 RL 2011/95/EU (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Jean Richard de la Tour vom 20. April 2023 – C 621/21 –, juris Rn. 71).

Frauen haben in der irakischen Gesellschaft eine deutlich abgegrenzte Identität, da sie von der sie umgebenden (männlichen) Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Die irakische Gesellschaft nimmt aufgrund der sozialen, rechtlichen oder religiösen Normen innerhalb des Herkunftslandes bzw. aufgrund der Bräuche ihrer Gemeinschaft Frauen – als soziale Gebilde – unterschiedlich als Männer wahr. [...]

1.2.4. Die Verfolgungshandlung droht der Klägerin aber auch dann wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG), wenn dafür ein weiteres erkennbares Merkmal erforderlich wäre.

In diesem Fall droht ihr die Verfolgungshandlung wegen Zugehörigkeit zur bestimmten sozialen Gruppe i.S.v. § 3b Abs. 1 Nr. 4 Halbs. 4 AsylG der "Frauen im heiratsfähigen Alter in der irakischen Gesellschaft".

Die Gruppe der Frauen in einem Land im heiratsfähigen Alter kann eine bestimmte soziale Gruppe im hier vorgenannten Sinn sein (VG Greifswald, Urteil vom 10. März 2022 – 3 A 1964/20 HGW –, juris Rn. 38, für die Gruppe der nach lokalen Vorstellungen "heiratsfähigen" minderjährigen Mädchen). [...]