BVerwG

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Zitieren als:
BVerwG, Urteil vom 15.06.2023 - 1 CN 1.22 - asyl.net: M31622
https://www.asyl.net/rsdb/m31622
Leitsatz:

Normenkontrollantrag gegen Hausordnung ist nicht zulässig:

1. Gemäß § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO können Betroffene beim zuständigen Oberverwaltungsgericht/Verwaltungsgerichtshof im Wege der Normenkontrolle die Überprüfung nichtgesetzlicher Rechtsvorschriften, d.h. abstrakt generellen Regelungen der Exekutive wie z.B. Verordnungen oder Satzungen, beantragen, wenn das Landesrecht dies vorsieht. § 4 AGVwGO-BW (Ausführungsgesetz zur VwGO Baden-Württemberg) sieht das vor. Danach entscheidet der Verwaltungsgerichtshof über im Range unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften. Die Hausordnung einer Gemeinschaftsunterkunft ist grundsätzlich eine solche Rechtsvorschrift.

2. Hat sich die Rechtsvorschrift zum Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung erledigt, weil sie entweder außer Kraft getreten oder die antragstellende Person nicht mehr von ihr betroffen ist, besteht ein Rechtsschutzinteresse nur fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann.

3. Bezüglich der Hausordnung einer Aufnahmeeinrichtung besteht kein solches Rechtsschutzinteresse. Denn eine Hausordnung ist nicht auf eine kurzfristige Geltungsdauer angelegt, so dass typischerweise kein gerichtlicher Rechtsschutz vor Erledigungseintritt zu erlangen wäre. Ihre Regelungen greifen auch nicht als unmittelbar geltende Gebote und Verbote in die Rechtspositionen der Betroffenen ein. Sie stellen insofern nur eine Rechtsgrundlage dar, aufgrund derer Einzelmaßnahmen getroffen werden können, gegen diese jeweils einzeln Rechtsschutz zu suchen wäre.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VGH Baden-Württemberg, Urteil vom 02.02.2022 - 12 S 4089/20 (Asylmagazin 7-8/2022, S. 265 ff.) - asyl.net: M30515)

Schlagwörter: Aufnahmeeinrichtung, Hausordnung, Zimmerkontrolle, Normenkontrollantrag, Satzung, Verordnung, Rechtsschutzinteresse, Erledigung, Rechtsweggarantie,
Normen: AsylG § 47, VwGO § 47 Abs. 1 Nr. 2, AGVwGO-BW § 4, GG Art. 19 Abs. 4, GG Art. 13
Auszüge:

[...]

Der Normenkontrollantrag richtet sich gegen Vorschriften der Hausordnung der Landeserstaufnahmeeinrichtung Freiburg in der vom 1. Januar 2020 bis zum 15. Dezember 2021 geltenden Fassung (im Folgenden: Hausordnung). Nach den im Revisionsverfahren noch im Streit stehenden Regelungen wird das Recht, gemeinsame Zimmerkontrollen durchzuführen, in der Regel zusätzlich auf die Alltagsbetreuung und den Sicherheitsdienst im Rahmen von § 11 dieser Hausordnung übertragen (§ 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 der Hausordnung). § 11 Abs. 1 der Hausordnung berechtigt den Sicherheitsdienst zu Kontrollen der Bewohnerinnen und Bewohner sowie sonstiger Personen beim Betreten der Einrichtung und auf dem Gelände auf das Mitführen bestimmter Gegenstände. Nach § 11 Abs. 3 der Hausordnung dürfen die Einrichtungsleitung und deren Beauftragte die Zimmer der Bewohnerinnen und Bewohner nach Aufforderung oder zu vorher angekündigten Terminen zur Gewährleistung der Sicherheit und Ordnung betreten. Nach § 11 Abs. 4 der Hausordnung können die Beschäftigten des Regierungspräsidiums, des Sicherheitsdienstes und der Alltagsbetreuung unter bestimmten Voraussetzungen die Zimmer auch in Abwesenheit der betroffenen Bewohnerinnen und Bewohner öffnen und betreten.

Während die Antragsteller in der Aufnahmeeinrichtung untergebracht waren, haben sie gegen diese Vorschriften im Dezember 2020 das Normenkontrollverfahren eingeleitet. Der Antragsteller zu 2 hat die Aufnahmeeinrichtung im September 2021, der Antragsteller zu 5 hat sie im Oktober 2021 verlassen.

Der Verwaltungsgerichtshof hat mit Urteil vom 2. Februar 2022 festgestellt, dass § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 sowie § 11 Abs. 3 und 4 der Hausordnung unwirksam gewesen seien, und den gegen § 11 Abs. 1 der Hausordnung gerichteten Antrag abgelehnt. Bei den angegriffenen Normen handele es sich um im Rang unter dem Landesgesetz stehende Rechtsvorschriften im Sinne des § 47 Abs. 1 Nr. 2 VwGO. Soweit sich der Antrag gegen § 4 Abs. 1 Satz 5 Spiegelstrich 3 sowie § 11 Abs. 3 und 4 der Hausordnung richte, stehe deren Außerkrafttreten der Zulässigkeit des Normenkontrollantrags ebenso wenig entgegen wie der Umstand, dass die Antragsteller die Aufnahmeeinrichtung verlassen hätten. Sie hätten vor diesen Ereignissen im Sinne des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 2 Abs. 1 i. V. m. Art. 1 Abs. 1 GG sowie aus Art. 13 Abs. 1 GG geltend machen können. Auch nach Beendigung des Aufenthalts in der Aufnahmeeinrichtung könnten sie sich auf ein fortbestehendes schutzwürdiges Interesse an einer Sachentscheidung berufen. Art. 19 Abs. 4 GG gebiete die Möglichkeit einer gerichtlichen Klärung in Fällen tiefgreifender oder gewichtiger Grundrechtseingriffe, wenn sich die direkte Belastung durch den angegriffenen Hoheitsakt nach dem typischen Verfahrensablauf auf eine Zeitspanne beschränke, in welcher der Betroffene eine gerichtliche Entscheidung in der Hauptsache kaum erlangen könne. [...] Unzulässig sei der Antrag hingegen, soweit er sich gegen § 11 Abs. 1 der Hausordnung richte. Hierdurch seien die Antragsteller nicht derart tiefgreifend und schwerwiegend in ihren Grundrechten eingeschränkt worden, dass im Hinblick auf das Gebot des effektiven Rechtsschutzes ein fortbestehendes Rechtsschutzinteresse begründet sei. Im Umfang seiner Zulässigkeit sei der Antrag auch begründet, da die angegriffenen Vorschriften einer hinreichend bestimmten normativen Grundlage entbehrten. [...]

Die zulässige Revision des Antragsgegners ist begründet. [...]

2. Den Antragstellern fehlt indessen ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Unwirksamkeit der angegriffenen Regelungen, die während der Anhängigkeit des Normenkontrollverfahrens außer Kraft getreten sind.

Gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO kann den Normenkontrollantrag jede natürliche oder juristische Person stellen, die geltend macht, durch die Rechtsvorschrift oder deren Anwendung in ihren Rechten verletzt zu sein oder in absehbarer Zeit verletzt zu werden. Zwar geht § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO vom Regelfall der noch geltenden Rechtsvorschrift aus. Ist die angegriffene Norm während der Anhängigkeit des Normenkontrollantrags außer Kraft getreten, bleibt er aber zulässig, wenn der Antragsteller weiterhin geltend machen kann, durch die zur Prüfung gestellte Norm oder deren Anwendung in seinen Rechten verletzt oder verletzt worden zu sein. Darüber hinaus muss er ein berechtigtes Interesse an der Feststellung haben, dass die Rechtsvorschrift unwirksam war [...]. An diesem berechtigten Interesse mangelt es den Antragstellern.

Art. 19 Abs. 4 Satz 1 GG garantiert effektiven und möglichst lückenlosen richterlichen Rechtsschutz gegen Akte der öffentlichen Gewalt. [...] Trotz Erledigung des ursprünglichen Rechtsschutzziels kann ein Bedürfnis nach gerichtlicher Entscheidung aber fortbestehen, wenn das Interesse des Betroffenen an der Feststellung der Rechtslage in besonderer Weise schutzwürdig ist. Ein Rechtsschutzbedürfnis besteht trotz Erledigung unter anderem dann fort, wenn ein gewichtiger Grundrechtseingriff von solcher Art geltend gemacht wird, dass gerichtlicher Rechtsschutz dagegen typischerweise nicht vor Erledigungseintritt erlangt werden kann [...]. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor.

Die Hausordnung stellt bereits keine Maßnahme dar, die sich typischerweise erledigt, bevor gerichtlicher Rechtsschutz dagegen erlangt werden kann. Eine Hausordnung einer Flüchtlingsaufnahmeeinrichtung ist, wie der Verwaltungsgerichtshof richtig erkannt hat, nicht auf eine nur kurzfristige Geltung angelegt, sondern soll grundsätzlich dauerhaft das Benutzungsverhältnis hinsichtlich der Einrichtung regeln. [...]

Eine besondere Schutzwürdigkeit des von den Antragstellern geltend gemachten Klärungsinteresses ist ferner deswegen zu verneinen, weil die angegriffenen Regelungen nicht als unmittelbar geltende Gebote und Verbote in die Rechtspositionen der Betroffenen eingreifen. Damit bewirken sie noch keinen Grundrechtseingriff, gegen den nach dem typischen Geschehensablauf gerichtlicher Rechtsschutz nach Erledigung nur im Wege des Normenkontrollverfahrens erlangt werden kann. [...]

Die unmittelbare Belastung der Betroffenen tritt vielmehr erst durch die aufgrund der angegriffenen Regelungen getroffenen Maßnahmen ein. Hiergegen stehen den Betroffenen Rechtsschutzmöglichkeiten im verfassungsrechtlich gebotenen Umfang zur Verfügung.

Nach der insoweit bindenden (§ 173 Satz 1 VwGO i. V. m. § 560 ZPO) Auslegung der landesrechtlichen Normen durch das Normenkontrollgericht handelt es sich bei diesen um abstrakt-generelle Rechtssätze mit Eingriffsbefugnissen (UA S. 17). Auch wenn diese Rechtssätze nach der Auffassung des Normenkontrollgerichts die subjektive Rechtsstellung der Benutzer der Einrichtung unmittelbar berühren konnten, stellen sie für sich genommen noch keinen direkten Eingriff in subjektive Rechtspositionen dar. Ein solcher erfolgt erst durch die Wahrnehmung dieser Befugnisse gegenüber bestimmten Betroffenen im Einzelfall. [...]

Darüber hinaus wird die verfassungsrechtliche Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes dadurch gesichert, dass unter bestimmten Voraussetzungen auch vorbeugender Rechtsschutz erlangt werden kann. [...]