VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Beschluss vom 19.05.2023 - VG 10 L 135/23 (Asylmagazin 9/2023, S. 320) - asyl.net: M31620
https://www.asyl.net/rsdb/m31620
Leitsatz:

Erkrankung kann länderübergreifender Weiterleitung entgegenstehen:

1. Wird eine asylsuchende Person nach Antragstellung gemäß § 22 Abs. 1 S. 2 AsylG an eine vom Bundesamt für Migration und Flüchtling gemäß § 46 Abs. 2 S. 1 AsylG benannte Stelle länderübergreifend weitergeleitet, kann eine Erkrankung dieser Entscheidung entgegenstehen, wenn sie einen Eingriff in eine seit längerem bestehende, schützenswerte therapeutische Beziehung bedeutet oder schwere gesundheitliche Folgen drohen.

2. In Ausnahmefällen kann auch der Verlust eines günstigen familiären oder sonstigen sozialen Umfelds der Weiterleitung entgegenstehen, wenn die betroffene Person für die notwendige psychiatrische Behandlung besonders auf die Unterstützung ihres Umfelds angewiesen ist.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Bremen, Beschluss vom 26.10.2020 - 4 V 1980/20 - asyl.net: M29240)

Schlagwörter: Asylverfahren, Verteilungsverfahren, psychische Erkrankung, familiäre Beistandsgemeinschaft, Weiterleitung, länderübergreifende Umverteilung, Therapie, therapeutische Beziehung
Normen: AsylG § 22 Abs. 1 S. 2, AsylG § 46 Abs. 2 S. 1, GG Art. 2 Abs. 2 S. 1
Auszüge:

[...]

Nach § 22 Abs. 1 Satz 2 1. Halbsatz AsylG nimmt die Aufnahmeeinrichtung, bei welcher sich der Asylbewerber gemeldet hat, den Asylbewerber auf oder leitet ihn - wie hier - an die für seine Aufnahme vom Bundesamt für Migration und Flüchtlinge gemäß § 46 Abs. 2 Satz 1 AsylG als zuständig benannte Stelle weiter. [...] Jedoch besteht bei der im Eilverfahren allein möglichen summarischen Prüfung eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Weiterleitung nach Neumünster ausnahmsweise wegen der Schutzwirkung des Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG unzulässig sein könnte, weil durch sie die konkrete Gefahr einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung verursacht wird (vgl. allgemein: VerfGH Berlin, Beschluss vom 18. Oktober 2013 - 115.13 - juris). In solchen Ausnahmefällen entweder analog zu den Vorschriften bei der Verteilung nach § 50 AsylG ein individueller Anspruch auf Aufhebung einer Weiterleitungsverfügung im Hinblick auf individuelle Rechtspositionen eines Asylbewerbers oder durch eine entsprechende Anwendung des § 15a Abs. 1 S. 6 AufenthG [...].

Es ist zwar davon auszugehen, dass der Antragsteller ausweislich der eingereichten Berichte der Beratungsstelle ... nicht reiseunfähig ist und psychische Erkrankungen grundsätzlich im ganzen Bundesgebiet, so auch in Neumünster behandelt werden können. Eine Erkrankung kann jedoch ausnahmsweise einer länderübergreifenden Verteilung dennoch entgegenstehen, wenn entweder durch die Verteilung in eine seit längerem bestehende schützenswerte Therapeuten-Patienten-Beziehung eingegriffen werden würde oder wenn die bei der Verteilung drohenden gesundheitlichen Folgen schwer sind. Auch wenn der Verlust eines günstigen familiären oder sonstigen sozialen Umfeldes nicht in jedem Fall einen zwingenden Grund darstellt, kann dies in Ausnahmefällen der Weiterleitung auch entgegenstehen, wenn der Ausländer für die notwendige psychiatrische Behandlung und für eine alltägliche Unterstützung durch ein Familienmitglied in einem Maße angewiesen ist, dass diese Unterstützungsleistungen über eine günstiges familiäres und soziales Umfeld hinausgehen (vgl. hierzu insbesondere VG Bremen, Beschluss vom 2. Juni 2020 - 4 V 382/20 - Rn. 8 und 9, juris mit weiteren Nachweisen). [...]