VG Berlin

Merkliste
Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 20.03.2023 - 33 K 143.19 A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 260 ff.) - asyl.net: M31617
https://www.asyl.net/rsdb/m31617
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für russischen jungen Mann wegen drohender Einberufung zum Militärdienst und Entsendung in die Ukraine:

1. Einem 17-jährigen russischen Staatsangehörigen ist gemäß § 4 Abs. 1 AsylG der subsidiäre Schutz zuzuerkennen, da er Gefahr läuft, zum Militärdienst einberufen und zu Kampfhandlungen in der Ukraine entsandt zu werden, womit die Gefahr eines ernsthaften Schadens verbunden ist.

2. Dagegen spricht nicht, dass er bisher keinen Einberufungsbescheid erhalten hat. Denn es ist damit zu rechnen ist, dass er bei der Einreise in die Russische Föderation registriert und zum Militärdienst einberufen wird. Es besteht für den Kläger auch eine hohe Wahrscheinlichkeit, in die Ukraine entsandt zu werden, sei es als Vertragssoldat oder als Reservist nach Ableistung eines möglicherweise verkürzten Grundwehrdienstes.

3. Dem Betroffenen ist jedoch nicht die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, da nicht beachtlich wahrscheinlich ist, dass die Einziehung zum Wehrdienst oder die Bestrafung bei Entziehung zumindest auch an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfen. Insbesondere ist eine Verfolgung wegen einer politischen Überzeugung gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG nicht ersichtlich.

4. Für den Vater besteht keine Gefahr, einberufen zu werden, da er mit mehr als 50 Jahren die Höchstaltersgrenze für Reservisten im Rang einfacher Soldaten deutlich überschritten hat. Zwar wird in Tschetschenien für Freiwilligenbataillons zwangsrekrutiert, ohne sich an irgendwelche Regeln zu halten, allerdings besteht insofern eine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion; anderer Ansicht: VG Potsdam, Urteil vom 21.04.2023 - 16 K 2790/17.A - asyl.net: M31512)

Schlagwörter: Russische Föderation, Tschetschenen, Militärdienst, Tschetschenien, Einberufung, Ukraine-Krieg, Strafverfolgung wegen Verweigerung von völkerrechtswidrigem Militärdienst,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5
Auszüge:

[…]

59 (2) Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass der Kläger zu 6 zum Kreis derjenigen russischen Männer zählt, die aktuell der ernsthaften Gefahr einer legalen oder extralegalen Zwangsrekrutierung für den Ukrainekrieg ausgesetzt sind. […]

61 Der Kläger, der nach seinen Angaben Anfang der 1980er Jahre Wehrdienst geleistet hat und nach seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung jedenfalls keinen Offiziersrang hatte, ist mit seinen [über 55] Jahren schon nach den Altersgrenzen gemäß Art. 53 Abs. 1 des Gesetzes N 31-FZ vom 26. Februar 1997 über die Mobilisierungsvorbereitung und Mobilisierung in der Russischen Föderation in seiner aktuellen Fassung vom 4. November 2022 nicht mehr Teil der Reserve.

62 Es ist aufgrund der eigenen Angaben des Klägers zu 6 davon auszugehen, dass er den Rang eines einfachen Soldaten hatte, sodass selbst auf der dritten und letzten Priorisierungsstufe für ihn die Altershöchstgrenze von 50 Jahren Anwendung findet. […]

66 b) Auch der Kläger zu 2 hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 4 AsylG aufgrund von Nachfluchtgründen.

67 Unabhängig von der Frage der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Einziehung des Klägers zu 2 zum Wehrdienst und daran anknüpfender Folgen ist nicht ersichtlich, dass hinsichtlich des Klägers zu 2 eine begründete Furcht vor Verfolgung ›wegen‹ eines asylrelevanten Merkmals im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG vorliegt. Es fehlt auch insoweit an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit dafür, dass die russischen Behörden mit einer Einziehung zum Wehrdienst oder einer Bestrafung bei Entziehung zumindest auch an ein asylrelevantes Merkmal anknüpfen. Insbesondere ist eine Verfolgung wegen einer zugeschriebenen politischen Überzeugung (§ 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5, § 3a Abs. 3 AsylG) hier nicht ersichtlich. […]

68 Auch eine drohende Bestrafung des Klägers zu 2 bei Einreise in die Russische Föderation im Falle einer Wehrdienstentziehung führt nicht zu einem Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Denn auch insoweit knüpft der mit der Bestrafung verbundene Eingriff […] jedenfalls nicht mit der erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal, insbesondere nicht an eine zugeschriebene politische oppositionelle Überzeugung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG an. […]

72 [D]ass dem Kläger zu 2 aufgrund von Besonderheiten des Einzelfalles eine politische Überzeugung zugeschrieben würde, wegen der ihm eine Verfolgung droht, ist ebenfalls nicht ersichtlich. […]

75 II. Der Kläger zu 2 hat jedoch im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung einen Anspruch auf Gewährung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG (dazu 1.). […]

78 Die Kammer ist davon überzeugt (§ 108 VwGO), dass dem Kläger zu 2 im Falle der Rückkehr in den Herkunftsstaat mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Einziehung zum Wehrdienst und in dessen Rahmen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Nach umfassender Würdigung und Auswertung der vorliegenden Erkenntnismittel ist die Kammer im Wege einer Gesamtbetrachtung unter Einbeziehung der Situation im Herkunftsstaat, unter Beachtung der Auswirkungen des Angriffskrieges gegen die Ukraine und der individuellen Situation des Klägers zu 2 zu der Überzeugung gelangt, dass für den Kläger zu 2 die ernsthafte Gefahr einer unmenschlichen Behandlung besteht. Die Einberufung des gesunden, kinderlosen, im Zeitpunkt der Entscheidung noch 17-jährigen Klägers zu 2 zum Wehrdienst und seine Entsendung zu Kampfhandlungen in die Ukraine ist angesichts der in diesem Falle drohenden, besonders gravierenden Rechtsgutverletzung als insgesamt beachtlich wahrscheinlich anzusehen, auch wenn der Kläger zu 2 erst knapp sechs Monate nach dem entscheidungserheblichen Zeitpunkt volljährig wird und damit das wehrpflichtige Alter erreicht und bislang noch keinen Einberufungsbefehl oder Musterungsbescheid erhalten hat. Im Rahmen einer qualifizierten Gesamtbetrachtung sowie Würdigung der Erkenntnisse und Umstände des Einzelfalles ist der Kläger zu 2 nicht auf die in einer volatilen Lage stets verbleibenden Unklarheiten im Falle der Einziehung zum Wehrdienst zu verweisen, wenn der zugleich bei Eintritt der Gefahr drohende Schaden für das Leben und die körperliche Unversehrtheit besonders schwer wiegt.

79 […] Dem Kläger zu 2 droht ein ernsthafter Schaden in Form der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung, weil beachtlich wahrscheinlich ist, dass er nach seiner Rückkehr und in Zusammenhang mit dieser zum Wehrdienst eingezogen wird (dazu a)) und ab diesem Zeitpunkt auch die beachtlich wahrscheinliche Gefahr der Entsendung in den Ukraine-Krieg besteht (dazu b)), wo der Kläger zu 2 damit zu rechnen hätte, zwangsweise an einem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und völkerrechts- und/oder menschenrechtswidrigen Handlungen teilnehmen zu müssen bzw. selbst schweren Schaden an Leib und Leben zu erleiden (dazu c).

80 a) Die Kammer ist von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Einziehung des Klägers zu 2 im Falle von dessen Rückkehr in die Russische Föderation überzeugt (§ 108 VwGO), wobei hier nicht auf die Situation in Tschetschenien […] abgestellt wird, sondern auf die Situation in der übrigen Russischen Föderation, da nach dem oben Gesagten davon ausgegangen wird, dass die Kläger im Falle einer Rückkehr nicht nach Tschetschenien zurückkehren werden. Der Kläger zu 2 ist im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung zwar noch nicht im wehrpflichtigen Alter, weil er das 18. Lebensjahr erst am 4...vollendet. Gleichwohl steht damit aber auch fest, dass der Kläger zu 2 im Falle seiner Rückkehr schon für die im Herbst 2023 – nämlich ab dem 1. Oktober 2023 – stattfindende Einberufungskampagne als Wehrpflichtiger zur Verfügung steht und auch in den kommenden Jahren zur Verfügung stehen wird. […]

81  Auch dass der Kläger zu 2 derzeit noch keine Vorladung zur Musterung auf Wehrdiensttauglichkeit erhalten hat, ändert nichts daran, dass die Kammer von einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit seiner Einziehung zum Wehrdienst im Falle der Rückkehr ausgeht. […] Vielmehr ist im entscheidungserheblichen Zeitpunkt davon auszugehen, dass dem Kläger die Einbestellung zur Musterung und sodann die Einberufung zum Wehrdienst im Falle seiner Rückkehr unmittelbar droht, weil er schon durch den Umstand der (Wieder-)Einreise an Landesgrenzen oder am Flughafen von den russischen Behörden erfasst und registriert werden wird und ab diesem Zeitpunkt mit seiner Einziehung zum Wehrdienst, auch in nächster Zukunft, zu rechnen ist, zumal er sich in jedem Fall binnen zwei Wochen nach der Wiedereinreise bei der Militärverwaltung zu melden hat […].

82 Gegen die beachtliche Wahrscheinlichkeit spricht auch nicht der den Erkenntnismitteln zu entnehmende Umstand, dass jährlich lediglich etwa ein Drittel der Männer im wehrpflichtigen Alter tatsächlich einberufen wird […]. […]

83        Für die Kammer von maßgeblicher Bedeutung für die Annahme der beachtlichen Wahrscheinlichkeit ist, dass sich die Rekrutierungs- und Einziehungsbemühungen gegenüber Grundwehrdienstpflichtigen durch die russischen Behörden seit der Einberufungskampagne im Herbst 2022 erheblich verschärft haben. […]

84 Nach alledem ist unter Berücksichtigung des Umstands, dass die Familie des Klägers zu 2 auf die interne Fluchtalternative außerhalb Tschetscheniens zu verweisen ist (vgl. oben unter I.2.a) aa)), und der massiven Rekrutierungs- und Einziehungsbemühungen der russischen Behörden seit dem Herbst/Winter 2022 gerade auch außerhalb Tschetscheniens von einer ernsthaften Gefahr (›real risk‹) der Einziehung des Klägers zu 2 zum Wehrdienst in unmittelbarem zeitlichen Zusammenhang mit seiner Rückkehr und Eintritt der Volljährigkeit auszugehen. […]

85 b) Die Kammer ist nach Abwägung und Würdigung aller im entscheidungserheblichen Zeitpunkt vorliegenden Erkenntnismittel auch von der beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Entsendung des Klägers zu 2 in den Ukraine-Krieg im Falle von dessen Rückkehr in die Russische Föderation und Einziehung zum Militärdienst entweder im Rahmen des Wehrdienstes oder als Vertragssoldat überzeugt (§ 108 VwGO). […]

92 c) Dem Kläger zu 2 droht damit bei Einziehung als Grundwehrdienstpflichtiger hinreichend wahrscheinlich die Entsendung in einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg und damit eine unmenschliche Behandlung im Sinne des § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG. Denn nicht nur läuft der Kläger zu 2 in diesem Falle Gefahr, selbst verwundet oder getötet zu werden und damit schwerste Schäden an besonders gewichtigen Rechtsgütern zu erleiden. Die russischen Streitkräfte und die mit ihnen kämpfenden Truppen begehen in dem von Russland geführten Angriffskrieg in der Ukraine und an der dortigen Bevölkerung auch immer wieder völker- und menschenrechtswidrige Handlungen im Sinne des Art. 3 EMRK wie wahllose Bombardierungen und Granatenangriffe auf zivile Ziele, Folterungen, willkürliche Verhaftungen, Entführungen, Tötungen, Vergewaltigungen, Kindesentziehungen, Zwangsrekrutierungen von ukrainischen Zivilisten und Plünderungen (Human Rights Watch, World Report 2023 – Russian Federation, 12. Januar 2023, S. 1; EUAA, COI Query, a.a.O., S. 3; VG Lüneburg, Urteil vom 27. September 2022 – 2 A 253/19 – juris S. 7; ISW, Russian Offensive Campaign Assessment vom 5. März 2023; ausführlich VG Berlin, Urteil vom 20. Dezember 2022 – VG 39 K 62.19 A – juris Rn. 20 ff.; Urteil vom 30. Januar 2023 – VG 39 K 75.19 A – EA S. 5 ff. m. w. N.). […]

93 Die Kammer ist nach alldem davon überzeugt, dass bei Einziehung und Entsendung des Klägers zu 2 auch die beachtliche Wahrscheinlichkeit besteht, dass er unmittelbar oder mittelbar an derartigen Handlungen und Verbrechen beteiligt werden wird. […]