VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 20.03.2023 - 33 K 628.18 A - asyl.net: M31616
https://www.asyl.net/rsdb/m31616
Leitsatz:

Kein Abschiebungsverbot für opiatabhängige Person aus Dagestan, Russische Föderation:

1. Aufgrund des schlechten Gesundheitszustands des Klägers (u.A. Entzugserscheinungen und Gehbehinderung) droht dem Kläger keine Zwangsrekrutierung für den Krieg in der Ukraine, obwohl er von Alter und Spezialisierung während des regulären Wehrdienstes her prinzipiell als Reservist eingezogen werden könnte.

2. Auch wenn eine Substitutionstherapie mit Methadon, wie sie der Kläger in Deutschland erhält, in der Russischen Föderation nicht zur Verfügung steht, gibt es Behandlungsmöglichkeiten in der Russischen Föderation, auf die der Kläger zu verweisen ist.

3. Auch eine opiatabhängige Person kann durch einfache Hilfstätigkeiten, Unterstützung seitens Familienangehöriger und mit (ergänzenden) Sozialleistungen im Nordkaukasus ihr Existenzminimum sichern.

(Leitsätze der Redaktion)

Siehe auch:

  • Stefan Keßler: Wann verbieten Schmerzen eine Abschiebung? Anmerkung zum Urteil des EuGH vom 22.11.2022 – C-69/21, X. gegen die Niederlande –, Asylmagazin 6/2023, S.237
Schlagwörter: Russische Föderation, Zwangsrekrutierung, Krankheit, Drogenabhängigkeit, Abschiebungsverbot, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, Militärdienst, Sicherung des Lebensunterhalts,
Normen: AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 60 Abs. 7, EMRK Art. 3, GR-Charta Art. 4
Auszüge:

[...]

25 Die Verpflichtung des Klägers, unfreiwillig an für ihn lebensbedrohlichen Kampfhandlungen in dem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg in der Ukraine teilzunehmen, wäre als unmenschliche Behandlung im Sinne des Art. 3 EMRK zu werten. Die Kammer geht jedoch nicht davon aus, dass eine solche hinreichend wahrscheinlich ist. [...]

42 b) Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnislage ist die Kammer nicht davon überzeugt, dass der Kläger zum Kreis derjenigen russischen Männer zählt, die aktuell der ernsthaften Gefahr einer legalen oder extralegalen Zwangsrekrutierung für den Ukrainekrieg ausgesetzt sind. Auch wenn derzeit weiterhin verdeckt Reservisten unfreiwillig zum Militärdienst auf ukrainischem Gebiet herangezogen werden sollten, so ist der Kläger bei einer Rückkehr hiervon nicht beachtlich wahrscheinlich betroffen. [...]

44 Der Kläger, der nach seinen Angaben ab 1990 zwei Jahre Wehrdienst geleistet hat und den Dienstgrad eines Soldaten hatte, dürfte zwar – sofern seine Schilderungen zutreffen – mit 49 Jahren noch der Reserve zuzuordnen sein und der dritten Alterskategorie der ersten Ranggruppe unterfallen. Auch dürfte er, wenn er wie behauptet, während seines Grundwehrdienstes als Maschinengewehrschütze tätig war und besonders großkalibrige Waffen bedient hat, über eine Ausbildung verfügen, die ihn für den Einsatz im Rahmen von Kampfhandlungen grundsätzlich interessant macht.

45 Gegen eine ernsthafte Gefahr der Einberufung spricht jedoch in erster Linie sein Gesundheitszustand. Als Opiatabhängiger, der in der Russischen Föderation keine Möglichkeit hat, legale Ersatzstoffe zu erhalten und so massiven Entzugserscheinungen psychischer und somatischer Natur, die bei Unterbrechung der Substitutionsbehandlung innerhalb von 24-48 Stunden auftreten (vgl. zuletzt Attest der behandelnden Ärztin, Frau Dr. ..., vom 14. März 2023), vorzubeugen, ist er im Rahmen einer Kampftruppe nur schwer einsetzbar und stellt sogar ein erhebliches Sicherheitsrisiko dar. Hinzu kommt seine Gehbehinderung. Der Kläger humpelt augenscheinlich stark und ist laut vom Gericht eingeholter Stellungnahme seiner ehemals behandelnden Ärztin, Frau ..., nicht in der Lage, zu rennen. Auch dies führt zu einer geringeren Eignung für den Einsatz an der Kriegsfront. Diese gesundheitlichen Umstände hält die Kammer zusammen mit dem Alter des Klägers, mit dem er fast die Altersgrenze für das Ausscheiden aus der Reserve (50 Jahre) erreicht, für ausschlaggebend, um ihn aktuell nicht ernsthaft von einer Einberufung gefährdet anzusehen. [...]

47 3. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist ferner nicht deshalb festzustellen, weil der Kläger seine existenzielle Lebensgrundlage in der Russischen Föderation nicht würde sichern können.

48 Die ernsthafte, ein Mindestmaß an Schwere aufweisende Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung kann in ganz außergewöhnlichen Ausnahmefällen auch aufgrund schlechter humanitärer Verhältnisse erreicht sein, wenn ein Ausländer seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern kann, kein Obdach findet oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011, Nr. 30696/09, NVwZ 2011, 413; BVerwG, Beschluss vom 8. August 2018 - BVerwG 1 B 25.18 - juris Rn. 9 ff.). [...]

49 Ein solcher außergewöhnlicher Ausnahmefall besteht hier nicht. Der Kläger hat in seiner schriftlichen Stellungnahme beim Bundesamt angegeben, einen Hochschulabschluss erlangt und in der Heimat stets über ein für örtliche Verhältnisse sehr gutes Einkommen verfügt zu haben. Selbst wenn er wegen seiner Opiatabhängigkeit heute nicht mehr in der Lage sein sollte, seinen Lebensunterhalt durch die erlernten Tätigkeiten zu bestreiten, kann er zumutbar auf einfache Hilfstätigkeiten, die Unterstützung von Verwandten und notfalls auf (ergänzende) Sozialleistungen verwiesen werden. Es gibt in der Russischen Föderation eingeschlossen den Nordkaukasus viele Erwerbsmöglichkeiten auch für ungelernte Personen (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Regensburg, Lebensbedingungen für Rückkehrer, 29. September 2021, S. 2). Dafür dass diese aufgrund der aktuell verhängten Wirtschaftssanktionen des Westens gegenüber der Russischen Föderation entfallen wären, bestehen keine Anhaltspunkte. Überdies besteht ein System der Hilfe bei Arbeitslosigkeit, Arbeitssuche und Aufstockung besonders niedriger Einkommen (vgl. BFA, Länderinformation, a.a.O., S. 106 f.). Zudem sind in der gesamten Region des Nordkaukasus, aus der der Kläger stammt, der familiäre Zusammenhalt und die familiäre gegenseitige Unterstützungsbereitschaft besonders stark ausgeprägt. [...]

50 4. Auch aufgrund des Umstands, dass der ehemals heroinabhängige Kläger in der Russischen Föderation keine Substitutionsbehandlung mit Methadon erhalten kann, ist kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. der EMRK festzustellen, auch wenn die Weltgesundheitsorganisation Methadon in die Liste der unentbehrlichen Arzneimittel aufgenommen hat. Denn die Nichtverfügbarkeit dieses Medikaments in der Russischen Föderation (dazu a)) verletzt die Bestimmungen der EMRK nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht (dazu b)).

51 a) Die Behandlung einer Opiatabhängigkeit mit Substitutionsmitteln ist in Russland verboten. [...]

52 Es gibt jedoch in über 240 Städten Russlands zahlreiche Kliniken, Fürsorgestellen und Entzugszentren zur Behandlung Drogenabhängiger. Darunter sind nicht nur private, sondern auch staatliche Einrichtungen sowie zahlreiche anonyme Entzugskliniken. [...]

53 b) Nach dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte vom 26. November 2019 im Verfahren Abdyusheva u.a. gegen Russland begründet die Nichtverfügbarkeit der Substitutionstherapie in der Russischen Föderation keine Verletzung der durch die EMRK gewährleisteten Menschrechte Heroinabhängiger (EGMR, Urteil vom 26. November 2019, Abdyusheva u.a. gegen Russland, Nr. 58502/11, 62964/10 und 55683/13, Leitsätze in deutscher Sprache bei juris; deutsche nichtoffizielle Übersetzung abrufbar unter: hudoc.echr.coe.int/). Die seit vielen Jahren heroinsüchtigen Beschwerdeführer verlangten dort von den russischen Behörden Zugang zu der aus ihrer Sicht gegenüber der Standardbehandlung effektiveren Substitutionsbehandlung mit Methadon oder Buprenorphin. Der Gerichtshof stellte fest, dass die Staaten im Hinblick auf Fragen der öffentlichen Gesundheit ein weites Ermessen genießen. Den Ermessensspielraum überschritten sie nicht, wenn sie Personen, wie hier Drogenabhängigen, den Zugang zu einer bestimmten, von diesen gewünschten Therapie (hier: Substitutionstherapie gestützt auf die Einnahme von Methadon oder Buprenorphin) versagten, wenn eine alternative angemessene und Erfolg versprechende medizinische Behandlung zur Verfügung stehe. [...]

56 Danach droht dem Kläger keine alsbald nach Rückkehr in die Russische Föderation eintretende schwerwiegende oder gar lebensbedrohliche Verschlechterung seines Gesundheitszustandes.

57 Wie ausgeführt (s.o. unter I.4.a)), ist die Opiatabhängigkeit des Klägers in der Russischen Föderation durch Entzugstherapien unter medikamentöser Begleitung behandelbar.Der Europäische Gerichtshof für
Menschenrechte bewertet diese als dem Stand der Wissenschaft entsprechend (vgl. EGMR, Urteil vom 26. November 2019, a.a.O.). Der Kläger hat darüber hinaus keinen Anspruch auf eine bestimmte von ihm bevorzugte oder als effektiver angesehene Therapieform; die medizinische Versorgung im Zielstaat muss der in der Bundesrepublik Deutschland qualitativ nicht entsprechen.

58 Im Falle des Klägers sind ferner keine besonderen Umstände ersichtlich, deretwegen er nicht auf die in der Russischen Föderation angewandte Entzugstherapie verwiesen werden könnte. Der Kläger hat auch auf konkrete Nachfrage des Gerichts hin keine ärztlichen Atteste vorgelegt, aus denen sich ergibt, dass der Entzug bei ihm aufgrund anderer Erkrankungen (insbesondere der chronischen Hepatitis B) zu einer wesentlichen Gesundheitsverschlechterung führen würde (vgl. zu dieser Frage den Beschluss der Kammer im Eilverfahren vom 17. März 2020 – VG 33 L 29/20 A – juris). [...]