OVG Berlin-Brandenburg

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Zitieren als:
OVG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 23.03.2023 - OVG 11 S 8/23 - asyl.net: M31614
https://www.asyl.net/rsdb/m31614
Leitsatz:

Vietnamesischen Staatsangehörigen aus der Ukraine ist Rückkehr nach Vietnam regelmäßig zuzumuten:

1. Sofern ein Anscheinsbeweis dafür besteht, dass Drittstaatsangehörigen mit unbefristeten Aufenthaltstitel für die Ukraine eine Rückkehr in ihr Herkunftsland nicht sicher und dauerhaft möglich ist, weil bei ihnen eine besonders enge Verbindung zur Ukraine besteht, ist dieser widerlegbar.

2. Vietnamesische Staatsangehörige können in der Regel dauerhaft und zumutbar in ihr Herkunftsland zurückkehren.

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Frankfurt/Oder, Beschluss vom 16.01.2023 - 3 L 376/22 - asyl.net: M31376; unter Bezug auf: Bundesministerium des Innern, Erlass/Behördliche Mitteilung vom 14.04.2022 - M3-21000/33#6 - asyl.net: M30571)

Schlagwörter: Ukraine, Drittstaatsangehörige, unbefristete Aufenthaltserlaubnis, Vietnam, Richtlinie zum vorübergehenden Schutz, Massenzustromsrichtlinie, vorläufiger Rechtsschutz, Ukraine-Krieg, Ukraine-Aufenthalts-Übergangsverordnung, UkraineAufenthÜV, Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382,
Normen: Durchführungsbeschluss (EU) 2022/382 Art. 2 Abs. 2, RL 2001/55/EG Art. 5, AufenthG § 24 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

5 2. [...] unbestritten ist, dass der vor dem 24. Februar 2022 rechtmäßig mit einem unbefristeten Aufenthaltstitel in der Ukraine lebende Antragsteller nur unter den in Art. 2 Abs. 2 des auf Grund der Richtlinie 2001/55/EG getroffenen Beschlusses des Rates der Europäischen Union vom 4. März 2022 (EU 2022/382, ABl. L 71/1) bestimmten Voraussetzungen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gem. § 24 Abs. 1 AufenthG haben kann. Danach ist der Beschluss u.a. auf Staatsangehörige anderer Drittländer als der Ukraine anwendbar, die nachweisen können, dass sie sich vor dem 24. Februar 2022 auf der Grundlage eines nach ukrainischen Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitels rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben, und die nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren. Mit seiner Beschwerde wendet der Antragsteller sich nur gegen die Annahme des Verwaltungsgerichts, dass er die zweite Voraussetzung nicht erfülle, da er "sicher und dauerhaft" in sein Herkunftsland - d.h. nach Vietnam - zurückkehren könne. Sein diesbezügliches Vorbringen rechtfertigt keine Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.

6 Dies gilt zunächst, soweit der Antragsteller rügt, dass das Verwaltungsgericht verkenne, was ein Anscheinsbeweis sei, weil bei Inhabern von unbefristeten Aufenthaltstiteln aus der Ukraine gerade davon auszugehen sei, dass sie nicht in ihr Herkunftsland zurückkehren können.

7 Für ihre Auffassung verweist die Beschwerde auf die als maßgebend bezeichnete, in den Schreiben vom 14. April und 5. September 2022 an die für das Aufenthaltsrecht zuständigen Ministerien und  Senatsverwaltungen der Länder (Betr. Umsetzung des Durchführungsbeschlusses des Rates zur Feststellung des Bestehens eines Massenzustroms im Sinne des Art. 5 der Richtlinie 2001/55/EG und zur Einführung eines vorübergehenden Schutzes; dort jeweils unter Ziff. 2) ausgeführte Auffassung des Bundesministeriums des Innern und für Heimat (BMIH), wonach bei den Personen, die sich mit einem nach ukrainischem Recht erteilten gültigen unbefristeten Aufenthaltstitel rechtmäßig in der Ukraine aufgehalten haben "prima facie von einer maßgeblichen Verbindung in der Ukraine und damit davon auszugehen ist, dass sie nicht in der Lage sind, sicher und dauerhaft in ihr Herkunftsland zurückzukehren, weil eine engere (Wortlaut der Kommission: "sinnvollere") Bindung zur Ukraine besteht als zum Herkunftsstaat". In den Schreiben heißt es weiter: "Die entsprechende prima facie-Schlussfolgerung ist widerleglich (vgl. in diesen Fällen für die Anschlussprüfungen unter Ziffer 4)."

8 Ob die in den genannten Schreiben des BMIH aufgeführten "Hinweise zu einzelnen für die Umsetzung wesentlichen Punkten" für die Ausländerbehörden im Einzelnen verbindlich sind (vgl. ablehnend VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 26. Oktober 2022 – 11 S 1467/22 – juris, Rn. 22; vgl. auch VG Darmstadt, Beschluss vom 10. Februar 2023 – 5 L 89/23.DA – juris, Rn.26), kann dahingestellt bleiben. Denn das Verwaltungsgericht hat in seiner Entscheidung darauf hingewiesen, dass nach den Anwendungshinweisen die prima facie-Schlussfolgerung (jedenfalls) widerleglich sei und sodann seine Entscheidung tragend damit begründet, dass im Falle des Antragstellers eine solche "Schlussfolgerung" widerlegt sei, da die Möglichkeit seiner sicheren und dauerhaften Rückkehr durch die allgemeine Auskunftslage bestätigt und auch nicht durch konkreten Vortrag im Einzelfall in Zweifel gezogen werde (S. 5). [...]

12 Soweit die Beschwerde rügt, dass das Verwaltungsgericht in seinem Beschluss rechtsfehlerhaft zu dem Ergebnis gelangt sei, dass der Antragsteller sicher und dauerhaft nach Vietnam zurückkehren könne, greift ihr Vortrag ebenfalls nicht durch. Im Einzelnen:

13 Entgegen der Auffassung der Beschwerde war die Kammer nicht gehindert, für die Entscheidung dieser Frage auf den Bericht des Auswärtigen Amts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Sozialistischen Republik Vietnam, Stand: November 2022, abzustellen. [...]

14 Soweit der Antragsteller die Auffassung vertritt, dass der Anscheinsbeweis durch die Darlegungen des Verwaltungsgerichts nicht entkräftet worden sei, kann dies ebenfalls nicht zum Erfolg der Beschwerde führen. Das Verwaltungsgericht hat in seinem Beschluss die Feststellungen zur Rückkehrsituation in Vietnam mit einer von ihm benannten Erkenntnisquelle begründet. Es hat ausgeführt, dass sich aus dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes ergebe, dass eine Rückkehr vietnamesischer Staatsangehöriger aus Deutschland rechtlich und tatsächlich möglich sei und in den vergangenen Jahren unter Geltung eines zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Vietnam geschlossenen Reintegrationsabkommens auch in tausenden Fällen erfolgt sei. Probleme würden weder in Bezug auf die Sicherung des Existenzminimums des Antragstellers, bei dem es sich um einen jungen, gesunden und arbeitsfähigen Mann handele, noch bezogen auf die medizinische Versorgung bestehen. [...]

15 Soweit die Beschwerde zudem moniert, dass die Annahme des Verwaltungsgerichts ohne eine konkrete aufenthaltsrechtliche Betrachtung der Einzelfallsituation des Antragstellers erfolgt sei, ist dies nicht zutreffend. Das Verwaltungsgericht hat in dem angefochtenen Beschluss ausgeführt, dass die Möglichkeit einer sicheren und dauerhaften Rückkehr durch die allgemeine Auskunftslage bestätigt wird und auch nicht durch konkreten Vortrag im Einzelfall in Zweifel gezogen wird. Diese Wertung ist nicht zu beanstanden [...]. Auch mit der Beschwerde führt der Antragsteller keinerlei konkrete Umstände an, deren Betrachtung in seinem Fall Anlass zu einer abweichenden Beurteilung der Rückkehrmöglichkeit geben könnte. [...]