Ausreisegewahrsam ist auf möglichst kurze Dauer zu beschränken:
1. Es widerspricht der gesetzlichen Regelung des Ausreisegewahrsams gemäß §§ 62b Abs. 3, 62 Abs. 1 S. 2 AufenthG, wenn im Haftantrag regelmäßig und ohne nähere Betrachtung des Einzelfalls die Höchstdauer von zehn Tagen Ausreisegewahrsam beantragt wird. Ein solcher Haftantrag ist unzulässig, denn das Ausreisegewahrsam ist auf die kürzestmögliche Dauer zu beschränken.
2. Wird vor Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 427 Abs. 2 FamFG ausnahmsweise auf die Anhörung der betroffenen Person verzichtet, so bedarf es hierfür einer konkreten Begründung, weswegen eine gegenüber § 427 Abs. 1 FamFG gesteigerte Dringlichkeit, d.h. Gefahr in Verzug vorliegt. Es muss dargelegt werden, weshalb konkret zu befürchten ist, dass sich die Person der Abschiebung entzieht. Nicht ausreichend ist insofern die allgemein bestehende Gefahr, dass sich die Person aufgrund der Ladung zur gerichtlichen Anhörung durch Untertauchen der Abschiebung entziehen könnte.
3. Die gemäß § 427 Abs. 2 FamFG erforderliche Gefahr im Verzug lässt sich auch nicht mit der Vermutung des § 62b Abs. 1 Nr. 3 AufenthG begründen, denn dabei handelt es sich um eine materiell-rechtliche Regelung. Auch aus der Regelung des § 59 Abs. 1 S. 8 AufenthG, wonach der Abschiebetermin nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise der betroffenen Person nicht mitgeteilt werden darf, ergibt sich keine Gefahr im Verzug, denn sie bindet nur die Ausländerbehörde, nicht jedoch das Gericht.
4. Die Anordnung des Ausreisegewahrsams bedarf gemäß § 62b Abs. 1 AufenthG einer fehlerfreien Ermessensausübung des Gerichts, bei der dieses das Freiheitsgrundrecht der betroffenen Person und das staatliche Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung im Einzelfall abwägen muss.
5. Die Kosten des Verfahrens hätte auch dann die Körperschaft zu tragen, der die beteiligte Behörde angehört, wenn ausschließlich Fehler des Gerichts zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Haftanordnung geführt hätten.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Der Gewahrsamsantrag der ZAB war unzulässig und demnach keine tragfähige Grundlage für die einstweilige Anordnung. Nach § 417 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 FamFG muss die Antragsbegründung unter anderem auch "Tatsachen" zur erforderlichen Dauer der Freiheitsentziehung enthalten [...]. Das Vorliegen eines zulässigen Haftantrags ist eine in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfende Verfahrensvoraussetzung. Zulässig ist der Haftantrag der beteiligten Behörde nur, wenn er den in § 417 Abs. 2 Satz 2 FamFG vorgeschriebenen Anforderungen an die Begründung entspricht. [...]
Im vorliegenden Fall legt die Begründung der ZAB zur beantragten Gewahrsamsdauer von 10 Tagen nahe, dass sie diese Dauer in entsprechenden Fällen, in denen sie die übrigen Voraussetzungen des § 62b AufenthG als gegeben ansieht, regelmäßig und ohne nähere Betrachtung des Einzelfalls für erforderlich hält (vgl. Seite 7 Mitte des Antragsschreibens). Das widerspricht dem Gesetz. Denn der Ausreisegewahrsam setzt nach § 62b Abs. 3 in Verbindung mit § 62 Abs. 1 AufenthG voraus, dass er auf die kürzestmögliche Dauer beschränkt wird (§ 62 Abs. 1 Satz 2 AufenthG). Dass diese nach dem Willen des Gesetzgebers nicht pauschal identisch mit der gesetzlichen Höchstdauer von 10 Tagen sein kann, versteht sich von selbst. Weitere tragfähige Ausführungen dazu, weshalb die Gewahrsamsdauer 10 Tage betragen muss, fehlen im Antrag und im Beschluss. [...]
Weder aus der Antragsbegründung der ZAB noch aus der Begründung im Beschluss des Amtsgerichts ergibt sich in ausreichender Weise, dass Gefahr im Verzug und damit die von § 427 Abs. 2 FamFG geforderte, gegenüber§ 427 Abs. 1 FamFG gesteigerte Dringlichkeit vorlag (das dringende Bedürfnis für ein sofortiges Tätigwerden ist notwendige Voraussetzung für die einstweilige Anordnung als solche) und deshalb ausnahmsweise von der nach § 51 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 420 Abs. 1 Satz 1 FamFG vor Erlass der einstweiligen Anordnung durchzuführenden Anhörung der Betroffenen abgesehen werden durfte. Der 08.02.2023 (Antragseingang beim Amtsgericht) war ein Mittwoch, sodass nicht ersichtlich ist, dass eine persönliche Anhörung nicht vor dem oder am 16.02.2023 vor Erlass der einstweiligen Anordnung hätte erfolgen können; ein solcher Grund liegt vielmehr fern. Ist der Aufenthalt eines Betroffenen bekannt und wird in anderer Weise seine Festnahme konkret geplant, bedarf es dazu einer vorherigen richterlichen Haftanordnung. Fälle, in denen die Ausländerbehörde befürchtet, dass der Betroffene die Ladung zu einem Anhörungstermin mit der Mitteilung des Haftantrags dazu nutzen wird, sich nunmehr der Abschiebung zu entziehen, können im Einzelfall die Annahme von Gefahr im Verzug rechtfertigen. Jedoch musste solches in der gerichtlichen Entscheidung in Bezug auf die Betroffene konkret begründet werden. Nicht ausreichend ist jedenfalls die bei einer Vorladung eines Ausländers zur persönlichen Anhörung zu einem Haftantrag der Ausländerbehörde allgemein bestehende Gefahr, dass er sich aufgrund der Ladung dem Verfahren durch Untertauchen entzieht [...]. Auch das Eingreifen einer gesetzlichen Vermutung nach § 62b Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 AufenthG, die materiell-rechtlichen Charakter hat, reicht zur Annahme der konkret festzustellenden, verfahrensrechtlich maßgeblichen Gefahr im Verzug im Sinne des § 427 Abs. 2 FamFG nicht aus. Die Feststellung des Amtsgerichts, dass, nachdem die Ausreisefrist erheblich überschritten wurde, gesetzlich vermutet wird, dass die Betroffene ihre Abschiebung erschweren werde, genügt also nicht für die Annahme von Gefahr im Verzug.
Auch aus § 59 Abs. 1 Satz 8 AufenthG ergibt sich nichts für die Annahme von Gefahr im Verzug. Diese Bestimmung, wonach nach Ablauf der Frist zur freiwilligen Ausreise der Termin der Abschiebung dem Ausländer nicht angekündigt werden darf, richtet sich an die Ausländerbehörde, nicht an das Gericht (und gilt auch für die Ausländerbehörde nicht gegenüber dem Gericht). Vielmehr muss in Verfahren der Abschiebungs-, Zurückschiebungs- und Zurückweisungshaft der Antrag der Verwaltungsbehörde dem Betroffenen vom Gericht zur Wahrung des rechtlichen Gehörs vollständig bekanntgegeben (und übergeben) werden (BGH, Beschluss vom 21. Juli 2011, V ZB 141/11, FGPrax 2011, 257 juris). Aus diesem Erfordernis kann jedoch nicht ohne Hinzutreten konkreter, einzelfallbezogener und im Beschluss zu benennender Umstände gefolgert werden, dass ein Betroffener die Ladung zu einem Anhörungstermin mit der Mitteilung des Haftantrags dazu nutzen wird, sich nunmehr der Abschiebung zu entziehen.
Vorliegend fehlt es an solchen tragfähigen, konkreten, einzelfallbezogenen und im Beschluss zu benennenden Umständen. Darin liegt ein wesentlicher Verfahrensfehler, da sich die Gründe für die Annahme von Gefahr im Verzug auch nicht aus den Akten entnehmen lassen (vgl. BayObLG, Beschluss vom 27.07.2000, 3 Z BR 64/00, NJW-RR 2001, 654 ). Ein begründeter Verdacht, dass sich ein Ausländer der Abschiebung entziehen will, ergibt sich nicht bereits daraus, dass er keine festen sozialen Bindungen im Bundesgebiet hat oder mittellos ist. Es müssten konkrete Umstände vorliegen, die den Verdacht der Absicht begründen, die Abschiebung zu verhindern oder ihr sonst zu entgehen. Dass die Betroffene, wie sich aus dem Vorbringen der ZAB ergibt, erklärte, "nicht freiwillig ausreisen" zu wollen, genügt weder für sich allein noch in Verbindung mit der vorgebrachten Verletzung von Mitwirkungspflichten zur Annahme von Gefahr im Verzug. [...]
Nach § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG kann ein Ausländer unabhängig von den Voraussetzungen der Sicherungshaft nach § 62 Absatz 3 AufenthG, insbesondere unabhängig vom Vorliegen einer Fluchtgefahr, zur Sicherung der Durchführbarkeit der Abschiebung auf richterliche Anordnung bis zu zehn Tage in Gewahrsam genommen werden, [...].
Der Ausreisegewahrsam setzt nach § 62b Abs. 3 in Verbindung mit § 62 Abs. 1 AufenthG zudem voraus, dass er verhältnismäßig ist. [...]
Bei der Regelung des § 62b Abs. 1 Satz 1 AufenthG handelt es sich - anders als bei der Vorbereitungshaft (§ 62 Abs. 2 AufenthG) und der Sicherungshaft (§ 62 Abs. 3 AufenthG) um eine gerichtliche Ermessensentscheidung ("kann"). Die Entscheidung über die Anordnung des Ausreisegewahrsams erfordert deshalb, auch wenn alle Voraussetzungen des § 62b AufenthG vorliegen, eine Abwägung zwischen dem Freiheitsgrundrecht des Betroffenen und dem staatlichen Interesse an der zügigen Durchführung der Abschiebung. Die für die Ermessensausübung maßgeblichen Gründe sind - wenn auch in knapper Form - gemäß § 38 Abs. 3 Satz 1 FamFG in der Entscheidung darzulegen. Erforderlich ist, dass eine Ermessensentscheidung überhaupt erkennbar stattgefunden hat und dass sie fehlerfrei - insbesondere unter Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit - erfolgte [...].
Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entspricht es unter Berücksichtigung der Regelung des Art. 5 Abs. 5 EMRK billigem Ermessen, diejenige Körperschaft, der die beteiligte Behörde (§ 418 Abs. 1 FamFG) angehört (vgl. § 430 FamFG), zur Erstattung der zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung notwendigen außergerichtlichen Auslagen des Betroffenen zu verpflichten (BGH FGPrax 2010, 212; FGPrax 2012, 44; FGPrax 2012, 223). Zwar wird diese Rechtsprechung in der Literatur für die Fälle abgelehnt, in denen keine Mitveranlassung durch die antragstellende Behörde (Mitveranlassung etwa durch einen nicht den Anforderungen genügenden oder sachlich nicht gerechtfertigten Haftantrag) gegeben ist, sondern allein ein Verfahrensfehler oder sonstiger Fehler des Gerichts zur Feststellung der Rechtswidrigkeit der Maßnahme führt (Drews in: Prütting/Helms, FamFG, 6. Auflage 2023, Rz. 6 a zu § 430 FamFG). So liegt der hiesige Fall zum einen jedoch nicht, zum anderen nimmt der Bundesgerichtshof diesbezüglich ersichtlich keine Differenzierung vor (Göbel in: Sternal, FamFG, 21. Auflage 2023, Rz. 14, 16 zu § 430), sondern sieht als Kostenträger diejenige am Verfahren beteiligte Körperschaft an, die aufgrund des Haftantrags ihrer Ausländerbehörde für die Verletzung der Rechte faktisch mitursächlich geworden ist. [...]