OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 25.05.2023 - 13 FEK 496/21 - asyl.net: M31600
https://www.asyl.net/rsdb/m31600
Leitsatz:

Zur angemessenen Verfahrensdauer erstinstanzlicher Asylprozesse:

Aufgrund der zwar gehobenen, aber noch durchschnittlichen Bedeutung des Asylverfahrens für die Kläger*innen und des durchschnittlichen Schwierigkeitsgrades ist ein richterlicher Überdenkens- und Entscheidungszeit- und -spielraum von nicht weniger als zwölf Monaten zuzugestehen.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Asylverfahren, Verwaltungsgericht, Verfahrensdauer, Asylverfahrensdauer, Verzögerungsrüge,
Normen: GVG § 198 Abs. 5 S. 1, GVG § 201 Abs. 3 S. 1
Auszüge:

[...]

2. Die Klage ist aber unbegründet. Die Kläger haben gegen den Beklagten über den bereits anerkannten Teil der Klageforderung in Höhe von 8.200 EUR bezogen auf eine unangemessene Verfahrensdauer im Zeitraum zwischen Juli 2019 bis November 2022 hinaus keinen Anspruch auf Zahlung einer Entschädigung nach § 173 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 198 Abs. 1 GVG in Höhe von weiteren 1.000 EUR wegen einer unangemessenen Verfahrensdauer auch im davor liegenden, am 15. Februar 2018 (Klageerhebung) beginnenden Verfahrenszeitraum.

Nach § 198 Abs. 1 GVG wird angemessen entschädigt, wer infolge unangemessener Dauer eines Gerichtsverfahrens als Verfahrensbeteiligter einen Nachteil erleidet. Die Angemessenheit der Verfahrensdauer richtet sich nach den Umständen des Einzelfalles, insbesondere nach der Schwierigkeit und Bedeutung des Verfahrens und nach dem Verhalten der Verfahrensbeteiligten und Dritter. Das Bundesverwaltungsgericht hat dazu die folgenden Grundsätze aufgestellt (BVerwG, Urt. v. 11.7.2013 - BVerwG 5 C 23.12 D -, BVerwGE 147, 146, 157 ff. - juris Rn. 37 ff.):

"bb) Die Verfahrensdauer ist unangemessen im Sinne von § 198 Abs. 1 Satz 1 GVG, wenn eine insbesondere an den Merkmalen des § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG ausgerichtete Gewichtung und Abwägung aller bedeutsamen Umstände des Einzelfalles ergibt, dass die aus konventions- und verfassungsrechtlichen Normen folgende Verpflichtung des Staates, Gerichtsverfahren in angemessener Zeit zum Abschluss zu bringen, verletzt ist. Dabei ist vor allem auch zu prüfen, ob Verzögerungen, die durch die Verfahrensführung des Gerichts eintreten, bei Berücksichtigung des dem Gericht zukommenden Gestaltungsspielraumes sachlich gerechtfertigt sind. Dieser Maßstab erschließt sich aus dem allgemeinen Wertungsrahmen, der für die Ausfüllung des unbestimmten Rechtsbegriffs der Unangemessenheit vorgegeben ist (vgl. BSG, Urteil vom 21. Februar 2013 a.a.O. Rn. 25 ff.), und wird durch diesen weiter konkretisiert. [...]"

Der Senat folgt diesen - in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts fortgeführten (vgl. bspw. BVerwG, Beschl. v. 12.3.2018 - BVerwG 5 B 26.17 D -, juris Rn. 6) - Grundsätzen in seiner ständigen Rechtsprechung (vgl. bspw. Senatsurt. v. 14.4.2021 - 13 F 73/20 -, NJW 2021, 2525, 2526 f. [BGH 21.01.2021 - 4 StR 83/20] - juris Rn. 38 ff.; Gerichtsbescheid d. Senats v. 3.4.2020 - 13 F 315/19 -, V.n.b., Umdruck S. 5 ff.) aus eigener Überzeugung.

Für die Frage der Angemessenheit der Verfahrensdauer kommt es zudem nicht darauf an, ob sich der zuständige Spruchkörper pflichtwidrig verhalten hat, so dass die Feststellung einer unangemessenen Verfahrensdauer dementsprechend für sich allein keinen Schuldvorwurf für die mit der Sache befassten Richter impliziert (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, BT-Drs. 17/3802, S. 19). Da es für die Frage der Unangemessenheit der Verfahrensdauer auf die Umstände des Einzelfalls ankommt und eine generelle Festlegung, wann ein Verfahren unverhältnismäßig lange dauert, nicht möglich ist, benennt § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG nur beispielhaft und ohne abschließenden Charakter Umstände, die für die Beurteilung der Angemessenheit besonders bedeutsam sind (vgl. Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes über den Rechtsschutz bei überlangen Gerichtsverfahren und strafrechtlichen Ermittlungsverfahren, BT-Drs. 17/3802, S. 18). Der Senat ist aufgrund der dargelegten Grundsätze der Auffassung, dass nicht jede gerichtliche Handlung und jeder Zeitraum, in dem keine nach außen dokumentierten Aktionen des Gerichts stattgefunden haben, im Einzelnen daraufhin überprüft werden müssen, ob hierin eine unangemessene Verzögerung lag oder ob hierin ein gerechtfertigter Zeitraum zur Entscheidungsfindung gesehen werden kann. Dies würde gegen den Grundsatz der Unabhängigkeit des Richters verstoßen, da die Gewichtung der vielfältigen Verfahren in einem Dezernat und die Frage, wie und zu welchem Zeitpunkt ein konkretes Verfahren gefördert werden soll, grundsätzlich einem Entscheidungsspielraum des Richters unterliegt. Es ist vielmehr unter Berücksichtigung der in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Kriterien eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalls dahingehend vorzunehmen, ob es unangemessene Verzögerungen des Verfahrens gegeben hat, die in den Verantwortungsbereich des jeweiligen Spruchkörpers fallen, wobei einzelne Abschnitte des Verfahrens in den Blick genommen werden können (vgl. Senatsurt. v. 14.4.2021 - 13 F 73/20 -, NJW 2021, 2525, 2527 [BGH 21.01.2021 - 4 StR 83/20] - juris Rn. 47).

Mit § 198 Abs. 1 GVG ist weder die Zugrundelegung fester Zeitvorgaben vereinbar, noch lässt es die Vorschrift grundsätzlich zu, für die Beurteilung der Angemessenheit von bestimmten Orientierungs- oder Richtwerten für die Laufzeit verwaltungsgerichtlicher Verfahren auszugehen, und zwar unabhängig davon, ob diese auf eigener Annahme oder auf statistisch ermittelten durchschnittlichen Verfahrenslaufzeiten beruhen (vgl. BVerwG, Urt. v. 11.7.2013 - BVerwG 5 C 23.12 D -, BVerwGE 147, 146, 153 ff. - juris Rn. 28 ff.). Jedenfalls ist bei einer Betrachtung und Bewertung der dem jeweiligen Gericht obliegenden Verfahrenshandlungen eine Überlänge des gerichtlichen Verfahrens nicht jeweils bereits ab Entscheidungsreife zu bejahen. Vielmehr ist zu berücksichtigen, dass das Gericht vor einer verfahrensfördernden Handlung oder Entscheidung zur Sache Zeit zur rechtlichen Durchdringung benötigt, um dem rechtsstaatlichen Anliegen zu genügen, eine grundsätzlich umfassende tatsächliche und rechtliche Prüfung des Streitgegenstandes vorzunehmen. [...]

Bei Berücksichtigung dieser Vorgaben weist das erstinstanzliche Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg, das insgesamt etwa 58 Monate (15.2.2018 - 5.12.2022) lief, in dem - aufgrund der vom Beklagten bereits anerkannten und entschädigten unangemessenen Verfahrensdauer im Zeitraum zwischen Juli 2019 bis November 2022 (41 Monate) - hier für den Ausgang des Entschädigungsklageverfahrens vom Senat allein noch zu beurteilenden Zeitraum zwischen Februar 2018 und Juni 2019 (17 Monate) noch keine unangemessene Verfahrensdauer auf.

a) Das erstinstanzliche Klageverfahren weist einen durchschnittlichen Schwierigkeitsgrad auf. [...]

b) Die Bedeutung des Verfahrens für die Kläger ist als gehoben, aber noch als durchschnittlich einzuschätzen. [...]

c) Das Verhalten der Verfahrensbeteiligten trug nicht zu einer relevanten Verzögerung des Rechtsstreits bei. [...]

d) Unter Berücksichtigung der zu den in § 198 Abs. 1 Satz 2 GVG genannten Gesichtspunkten angestellten Bewertungen und der richterlichen Gestaltungsfreiheit erreichte das erstinstanzliche Klageverfahren vor dem Verwaltungsgericht Oldenburg, das insgesamt etwa 58 Monate (15.2.2018 - 5.12.2022) lief, in dem hier für den Ausgang des Entschädigungsklageverfahrens vom Senat allein noch zu beurteilenden Zeitraum zwischen Februar 2018 und Juni 2019 noch keine unangemessene Verfahrensdauer. [...]

Angesichts der noch durchschnittlichen Bedeutung des Verfahrens für die Kläger (siehe oben II.2.b)) und dem daraus abgeleiteten nur mittelgewichtigen Interesse der Kläger, Rechtsschutz in einer angemessenen Zeit zu erlangen, der durchschnittlichen Schwierigkeit des Verfahrens (siehe oben II.2.a)) und der im Juni 2018 erst verstrichenen sehr kurzen Verfahrensdauer von weniger als vier Monaten geht der Senat davon aus, dass der von den Klägern erwartete Zeitraum für einen Verfahrensabschluss von sechs Monaten deutlich zu kurz bemessen ist und dass der Kammer des Verwaltungsgerichts vielmehr ein richterlicher Überdenkens- und Entscheidungszeit- und zugleich -spielraum von jedenfalls nicht weniger als 12 Monaten, mithin mindestens bis Juni 2019, zuzugestehen war, innerhalb derer die Kammer zu beurteilen hatte, wie das Verfahren zu fördern und letztlich zu entscheiden ist (vgl. zum angemessenen richterlichen Überdenkens- und Entscheidungszeit- und zugleich -spielraum in asylrechtlichen Hauptsacheverfahren auch: Sächsisches OVG, Urt. v. 5.12.2022 - 11 F 5/20.EK -, juris Rn. 27 f. (12 Monate bei überdurchschnittlicher Bedeutung und durchschnittlicher Schwierigkeit nach bereits abgelaufener Verfahrensdauer von 4 Monaten); Senatsurt. v. 14.4.2021 - 13 FEK 306/20 -, juris Rn. 49 ff. (6 Monate bei durchschnittlicher Bedeutung und Schwierigkeit nach bereits abgelaufener Verfahrensdauer von 16 Monaten)). [...]