LG Krefeld

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Zitieren als:
LG Krefeld, Beschluss vom 13.03.2023 - 7 T 20/23 - asyl.net: M31597
https://www.asyl.net/rsdb/m31597
Leitsatz:

Haftanordnung ohne Vorliegen der vollständigen Akte der Ausländerbehörde rechtswidrig:

Wird Abschiebungshaft ohne Beiziehung der vollständigen Akte der Ausländerbehörde angeordnet, ohne dass dies begründet wird, handelt es sich um eine rechtswidrige Freiheitsentziehung.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebungshaft, Ausländerakte, Ausländerbehörde, Akte, Haftbeschluss, Amtsermittlung, vollständige Akte, Aktenbestandteile,
Normen: AufenthG § 62 Abs. 3, GG Art. 2 Abs. 2 S. 2, GG Art. 104 Abs. 1 S. 1, FamFG § 417 Abs. 2 S. 3
Auszüge:

[...]

Dem Amtsgericht lag zum Zeitpunkt der Entscheidung jedenfalls nicht die vollständige Ausländerakte vor. Vor dem Hintergrund der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts ist der angefochtene Beschluss daher rechtswidrig. Der angefochtene Beschluss hat den Betroffenen schon deshalb in seinen Rechten verletzt, weil die Ausländerakte der Antragstellerin jedenfalls nicht vollständig vorgelegen hat und das Amtsgericht auch nicht dargelegt hat, warum es von einer Beiziehung der Ausländerakte abgesehen hat und der Beschluss nicht erkennen lässt, dass die Ermessensausübung auf einer ausreichenden Tatsachengrundlage und damit fehlerfrei erfolgt ist.

Wenn es auch in dem angefochtenen Beschluss heißt, dass die Ausländerakte vorgelegen habe, geht die Kammer nach Würdigung des Gesamtsachverhalts davon aus, dass dem Amtsgericht jedenfalls nicht die vollständige Ausländerakte vorlag. [...]

Gemäß § 417 Abs. 2 S. 3 FamFG soll die Behörde in Verfahren der Abschiebungshaft mit der Antragstellung die Akte des Betroffenen vorlegen. Zwar ist die Regelung als Soll-Vorschrift ausgestaltet, weil sie grundsätzlich keine zwingende Voraussetzung eines ordnungsgemäßen Antrags darstellt [...].

Nach der jüngsten Rechtsprechung des BVerfG belastet jedoch die ohne jegliche Begründung unterbliebene Beiziehung der Ausländerakte die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht [...].

Hiernach stellt die Nichtbeiziehung der Ausländerakte einen Verstoß gegen das Freiheitsrecht des Betroffenen aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 i.V.m. Art. 104 Abs. 1 GG dar. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG schützt die Freiheit als ein besonders hohes Rechtsgut, in das nur aus wichtigen Gründen eingegriffen werden darf. [...] Nach Art. 104 Abs. 1 S. 1 GG darf die in Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG gewährleistete Freiheit der Person nur aufgrund eines förmlichen Gesetzes und nur unter Beachtung der darin vorgeschriebenen Formen beschränkt werden. Die formellen Gewährleistungen des Art. 104 GG stehen mit der materiellen Freiheitsgarantie des Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG in unlösbarem Zusammenhang. Art. 104 Abs. 1 GG nimmt den schon in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG enthaltenen Gesetzesvorbehalt auf und verstärkt ihn für alle Freiheitsbeschränkungen, indem er neben der Forderung nach einem förmlichen Gesetz die Pflicht, die sich aus diesem Gesetz ergebenden Formvorschriften zu beachten, zum Verfassungsgebot erhebt. Für den schwersten Eingriff in das Recht der Freiheit der Person, die Freiheitsentziehung, fügt Art. 104 Abs. 2 GG dem Vorbehalt des (förmlichen) Gesetzes den weiteren, verfahrensrechtlichen Vorbehalt einer richterlichen Entscheidung hinzu, der nicht zur Disposition des Gesetzgebers steht. Der Richtervorbehalt dient der verstärkten Sicherung des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG (vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801). [...]

Das gerichtliche Verfahren muss deshalb darauf angelegt sein, den Betroffenen vor dem Freiheitsentzug all diejenigen rechtsstaatlichen Sicherungen zu gewähren, die mit einem justizförmigen Verfahren verbunden sind. [...] Es ist unverzichtbare Voraussetzung eines rechtsstaatlichen Verfahrens, dass Entscheidungen, die den Entzug der persönlichen Freiheit betreffen, auf zureichender richterlicher Sachaufklärung beruhen und eine in tatsächlicher Hinsicht genügende Grundlage haben, die der Bedeutung der Freiheitsgarantie entspricht. [...]

Die Akten der Ausländerbehörde sind daher als Bestandteil der richterlichen Amtsermittlung bei einer Entscheidung über eine Haftanordnung in aller Regel beizuziehen. Sind die Akten nicht erreichbar, muss das Gericht seiner Pflicht zur eigenständigen, aktuellen und erschöpfenden Aufklärung des Sachverhalts auf andere Weise genügen (vgl. BVerfG (2. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 13.11.2017 - 2 BvR 1381/17, NJW 2018, 37). [...] Die Nichtbeiziehung der Ausländerakte - jedenfalls ohne jegliche Begründung - betastet daher die gleichwohl angeordnete Abschiebungshaft mit dem Makel einer rechtswidrigen Freiheitsentziehung, der durch die Nachholung der Maßnahme rückwirkend nicht mehr zu tilgen ist und hinsichtlich dessen es sich verbietet zu untersuchen, ob die Haftanordnung auf der Nichtbeiziehung der Ausländerakte beruht (vgl. BVerfG (1. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 14.05.2020 - 2 BvR 2345/16, NVwZ-RR 2020, 801); BVerfG (3. Kammer des Zweiten Senats), Beschluss vom 11 .03.1996 - 2 BvR 927/95, NVwZ-Beil. 1996, 49). [...]

Zum Zeitpunkt der Entscheidung lag die Ausländerakte jedenfalls nicht vollständig vor. In dem vorliegenden Fall hat das Amtsgericht seine Entscheidung über die Haftanordnung daher jedenfalls in Unkenntnis des vollständigen Inhalts der Ausländerakte getroffen. Es begründet in seinem Beschluss auch nicht, weshalb es von der Beiziehung der kompletten Ausländerakte abgesehen hat. Dass - und welche - andere Bestandteile der Ausländerakte, welche nicht Inhalt der Akte geworden sind, bei der Entscheidungsfindung herangezogen wurden, lässt sich dem angefochtenen Beschluss auch nicht entnehmen. [...]

Zwar gilt nach der Rechtsprechung des BGH, dass der Zweck der Soll-Verpflichtung nach § 417 Abs. 2 S. 3 FamFG zur Vorlage der Ausländerakte - eine für die Anordnung der Sicherungshaft tragfähige tatsächliche Grundlage zu ermitteln - auch durch die vorhergehende Übersendung der relevanten Aktenstücke und die Vorlage der kompletten Ausländerakte des Betroffenen bei dessen persönlicher Anhörung erreicht wird (vgl. BGH, Beschluss vom 31 .08.2021 - XIII ZB 87/20, BeckRS 2021, 29966). Der dortigen Entscheidung lag jedoch ein Sachverhalt zugrunde, in dem die beteiligte Behörde bereits in ihrem Haftantrag angekündigt hat, die Ausländerakte bei der persönlichen Anhörung des Betroffenen vorzulegen, ihrem Haftantrag alle relevanten Unterlagen in Kopie beigefügt und eine Mitarbeiterin zu dem - noch für denselben Tag anberaumten - Anhörungstermin entsandt hat, die, wie angekündigt, die vollständige Ausländerakte mit sich führte. [...]