VG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
VG Schleswig-Holstein, Urteil vom 28.01.2022 - 8 A 115/19 - asyl.net: M31593
https://www.asyl.net/rsdb/m31593
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Frau aus Armenien wegen geschlechtsspezifischer Gewalt durch Ehemann:

1. Der Klägerin drohen durch die Gewalt ihres Ex-Ehemannes Verfolgungshandlungen gemäß § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG, die mit dem Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verknüpft sind. Denn Frauen sind bezüglich häuslicher Gewalt in bestimmten Gesellschaften als eine soziale Gruppe gemäß § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG zu betrachten. Das gilt dann, wenn die häusliche Gewalt nicht nur Ausdruck eines privaten Konflikts ist, sondern eine institutionalisierte Diskriminierung von Frauen durch das Rechts- und Gesellschaftssystem festzustellen ist.

2. Der armenische Staat ist nicht willens und in der Lage, gemäß § 3c Nr. 3, § 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG den erforderlichen Schutz vor häuslicher Gewalt zu gewährleisten. Davon ist insbesondere im Fall der Klägerin auszugehen, die sich wiederholt schutzsuchend an Behörden gewandt hat, ohne Schutz zu erlangen.

3. Es ist zweifelhaft, ob die Klägerin gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG in einem anderen Landesteil vor Verfolgung durch ihren Ex-Ehemann sicher wäre. Zumindest kann nicht gemäß § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise von ihr erwartet werden, sich in einem anderen Landesteil niederzulassen, weil sie ohne die Unterstützung ihrer Familie als alleinerziehende Mutter mit nur einfacher Berufsausbildung auch angesichts ihrer eigenen und der Traumatisierung ihres Kindes nicht in der Lage sein wird, auf sich allein gestellt eine Existenzgrundlage zu erwirtschaften.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Würzburg, Urteil vom 10.05.2021 - W 6 K 20.30279 - asyl.net: M30026)

Siehe auch:

  •  Lena Ronte: Zum Begriff der frauenspezifischen Verfolgung in der aktuellen Rechtsprechung, Asylmagazin 4/2023, S. 89
Schlagwörter: Armenien, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, häusliche Gewalt, alleinstehende Frauen, alleinerziehend, Schutzbereitschaft, Schutzfähigkeit, nichtstaatliche Verfolgung, interne Fluchtalternative, interner Schutz, Istanbulkonvention,
Normen: AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 3e Abs. 1 Nr. 1
Auszüge:

[...]

Unter Zugrundelegung dieser Maßstäbe ist festzustellen, dass für die Klägerin zu 1) die Voraussetzungen der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft vorliegen. Dabei legt das erkennende Gericht den Sachverhalt zugrunde, den die Klägerin zu 1) in der Anhörung beim Bundesamt, in der schriftlichen Klagebegründung und in der informatorischen Anhörung im Rahmen der mündlichen Verhandlung glaubhaft, da widerspruchsfrei, substantiiert und deutlich emotional bewegt geschildert hat. Danach ist die Klägerin zu 1) bereits in der Zeit ihrer Ehe und auch danach von ihrem drogensüchtigen und kriminellen Ehemann gewalttätig behandelt und vielfach bedroht und verprügelt worden. Gleichermaßen richteten sich die verbalen Bedrohungen im Übrigen auch gegen die Klägerin zu 2), die Übergriffe gegen ihre Mutter miterlebt hat, vereinzelt ebenfalls geschlagen wurde und ihrer Mutter auch mehrfach kurzzeitig "entzogen" wurde. [...]

Damit war die Klägerin zu 1) einer Verfolgungshandlung i.S.v. § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG ausgesetzt. Diese verfolgungsrelevante Misshandlung war auch mit einem Verfolgungsgrund i.S.v. § 3 b Abs. 1 Nr. 4 AsylG verknüpft (§ 3a Abs. 3 AsylG). Die Klägerin zu 1) war als Frau und damit als Angehörige einer bestimmten "sozialen Gruppe" i.S.v. § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG betroffen. Im Unterschied zur allgemeinen Kriminalität sind Frauen bei häuslicher Gewalt in bestimmten Gesellschaften als Angehörige einer nach Genderfaktoren abgegrenzten Gruppe zu betrachten. Dies gilt namentlich dann, wenn die häusliche Gewalt nicht bloß Ausdruck eines privaten Konflikts ist, sondern eine institutionalisierte Diskriminierung von Frauen durch das Rechts- und Gesellschaftssystem festzustellen ist (Marx, Kommentar zum AsylG, 9. Aufl. 2017, § 3b AsylG Rn. 33 m.w.N.). [...]

Das erkennende Gericht geht weiterhin davon aus, dass der armenische Staat nicht willens und in der Lage ist, den erforderlichen Schutz zu gewähren (§ 3d Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). [...]

Zwar ist in Armenien häusliche Gewalt nach den allgemeinen Gesetzen strafbar. Es sind auch gewisse Fortschritte bei der juristischen Bekämpfung erkennbar. So ist Ende 2017 ein Gesetz gegen häusliche Gewalt verabschiedet worden, aufgrund dessen die Polizei gewalttätige Ehepartner zwingen kann, das Haus des Opfers zu verlassen. Das Gesetz garantiert auch die notwendige psychologische, rechtliche und ggf. vorübergehende finanzielle Unterstützung der Opfer. Gleichwohl ist damit ein effektiver Schutz noch nicht sichergestellt. So enthält es keine Details hinsichtlich der Beweislast und es ist nicht klar, ob das Gesetz für alle Paare gilt oder nicht registrierte Ehen bzw. Lebensgemeinschaften ausnimmt. Das Gesetz regelt nicht effektiv schnelle Reaktionen und Schutzmaßnahmen, wenn sich die Situation weiter verschärft; die Mechanismen zur Verhinderung der Verletzung von Schutzmaßnahmen durch den Täter und die Sanktionen sind nicht effektiv [...].

Die Klägerin zu 1) hat glaubhaft dargelegt, dass sie sich durch eine Anzeige bei der Polizei erfolglos um staatlichen Schutz bemüht hat und dass sie auf eine Beschwerde bei der lokalen Polizeibehörde dort sogar von einem Polizeibeamten bedroht und genötigt worden ist, auf weitere Beschwerden zu verzichten. Sie hat dies nachvollziehbar mit dem Näheverhältnis des betroffenen Polizisten zu ihrem Ehemann begründet.

Letztlich ist auch davon auszugehen, dass der Klägerin zu 1) im Falle einer Rückkehr eine innerstaatliche Fluchtalternative i.S.v. § 3e AsylG zur Verfügung stünde. Dies setzt voraus, dass sie in einem Teil ihres Heimatlandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung hat, sicher und legal in diesen Landesteil einreisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort niederlässt. Insoweit ist zum einen bereits zweifelhaft, ob die Klägerin zu 1) in einem anderen Landesteil überhaupt vor Verfolgung hinreichend sicher wäre. Ihrem Ehemann war es bisher auch nach einem kurzfristigen Ortswechsel immer wieder gelungen, sie ausfindig zu machen. [...]

Unabhängig davon kann aber auch nicht i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG vernünftigerweise erwartet werden kann, dass sie sich dort (dauerhaft) niederlässt. Insoweit bedarf es stets einer umfassenden Würdigung der spezifischen Situation des Antragstellers, bei der Geschlecht, Alter, Erfahrung, Fähigkeiten und familiäre Bindungen auch in ihrer kumulativen Wirkung in den Blick zu nehmen sind [...]. Die Klägerin zu 1) ist als  geschiedene alleinerziehende Frau mit einer einfachen Berufsausbildung (Friseurin) mit einer 11-jährigen Tochter prognostisch nicht in der Lage, sich an einem anderen Ort (und möglichst weit entfernt von ihrem Ehemann) ohne Unterstützung ihrer Familie und Kontakt zu dieser (Eltern bzw. Onkel und Tante, die sie bereits bisher unterstützt haben) eine eigene Existenz aufzubauen. Dabei ist zusätzlich zu berücksichtigen, dass die Klägerin zu 1) durch die Übergriffe ihres Exmannes offensichtlich traumatisiert ist und daher kaum alleine die nötige Energie und Durchsetzungsfähigkeit aufbringen wird, auf sich alleine gestellt eine neue Existenzgrundlage zu schaffen. [...] Daneben bedarf nach dem Eindruck des Gerichts in der mündlichen Verhandlung im Übrigen auch die 11-jährige Klägerin zu 2) aufgrund ihrer Traumatisierung einer besonderen Betreuung, welche ihre Mutter alleine bei einer vollen Berufstätigkeit wohl nicht zu leisten vermag. [...]