VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Urteil vom 15.12.2022 - 24 B 22.50020 - asyl.net: M31588
https://www.asyl.net/rsdb/m31588
Leitsatz:

Keine systemischen Mängel für Dublin-Rückkehrende in Italien:

Einem jungen, gesunden, alleinstehenden Dublin-Rückkehrer, der in Italien noch keinen Asylantrag gestellt hat, droht derzeit in Italien weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen eine unmenschliche oder entwürdigende Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK durch systematische Schwachstellen gem. Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

21 c) Auch nach Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 und 3 Dublin III-VO ist ein Übergang der Zuständigkeit nicht eingetreten. Systemische Schwachstellen des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen in Italien liegen bezogen auf den Kläger als jungem, allein-stehendem und arbeitsfähigem Mann, der in Italien vor seiner Weiterreise nach Deutschland keinen Asylantrag gestellt hatte, nicht vor. [...]

30 Dem Kläger droht zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Überstellung nach Italien nicht die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung im Sinne des Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger in Italien weder während des Asylverfahrens noch auf absehbare Zeit nach einer nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs mit zu berücksichtigenden Zuerkennung eines internationalen Schutzstatus unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, in der er seine elementarsten Bedürfnisse nicht wird befriedigen können.

31 aa) Diese Gefahren drohen dem Kläger insbesondere deswegen nicht, da er nach Aktenlage bisher keinen Asylantrag in Italien gestellt hat. Für ihn liegt lediglich ein Eurodac-Treffer der Kategorie 2 ("IT2") vor, was einen "illegalen Grenzübertritt" bedeutet. [...]

32 Asylbewerber haben in Italien entsprechend dem Grundrecht auf Asyl Zugang zu einem rechtsstaatlichen Asylverfahren mit gerichtlichen Beschwerdemöglichkeiten [...]. Dieses Asylverfahren greift auch für Überstellungen nach der Dublin III-Verordnung. Asylsuchende, die noch keinen Antrag in Italien gestellt haben, können dies nach Überstellung bei der Grenzpolizei oder auch bei der zuständigen Quästur tun […]. Es ist davon auszugehen, dass dieser Asylantrag in einem ordnungsgemäßen Verfahren geprüft wird [...].

33 bb) Bei Überstellung nach Italien droht Dublin-Rückkehrern insbesondere keine Obdachlosigkeit mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit. [...]

35 Es besteht im vorliegenden Fall zur Überzeugung des Senats nicht die Gefahr, dass dem Kläger der Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung verwehrt würde, weil die zuständige Präfektur grundsätzlich die Befugnis hat, das Recht auf Unterbringung zu entziehen. [...]

36 Wie die Beklagte selbst einräumt (Schriftsatz vom 15.11.2022, S. 4) und worauf der Kläger in der mündlichen Verhandlung nachdrücklich hingewiesen hat, kann es vorkommen, dass der tatsächliche Zugang zur Unterbringung erst mit der formellen Registrierung des Antrags (verbalizzazione) erfolgt und nicht schon mit dem Asylgesuch und der anschließenden erkennungsdienstlichen Behandlung (fotosegnalamento). Sollte dies beim Kläger tatsächlich der Fall sein, muss er sich um eine Notunterkunft bemühen [...]. Zur Überbrückung ist eine vorübergehende Unterbringung in einer Notunterkunft zumutbar und nicht menschenrechtswidrig [...].

37 Nach aktueller Kenntnislage sind die Kapazitäten des italienischen Aufnahmesystems für Asylantragsteller und anerkannt Schutzberechtigte nicht ausgelastet; Überstellungen im Rahmen der Dublin III-VO sind mit Blick auf die verfügbaren Aufnahmekapazitäten ohne Einschränkungen möglich [...].

38 cc) Das Existenzminimum für Dublin-Rückkehrende ist gesichert. Die Grundbedürfnisse, insbesondere Nahrungsmittel, Hygieneartikel und Kleidung, werden in Italien hinreichend befriedigt [...].

39 dd) Die medizinische Versorgung für Dublin-Rückkehrende ist gewährleistet. Dublin-Rückkehrende haben, wie alle anderen Asylantragstellenden auch, den Anspruch auf eine Registrierung in das nationale Gesundheitssystem. [...]

42 Für den Kläger als jungen, gesunden, alleinstehenden Erwachsenen besteht nach Überzeugung des Senats im Anschluss an die Zuerkennung internationalen Schutzes grundsätzlich kein Risiko, einer erniedrigenden Behandlung ausgesetzt zu sein.

43 International Schutzberechtigte haben grundsätzlich für sechs Monate Zugang zu Zweitaufnahmeeinrichtungen, nämlich den Einrichtungen des SAI, früher: SIPROIMI [...].

46 Es bestehen aus Sicht des Senats keine überwiegenden Gründe dafür, dass es dem jungen und gesunden Kläger nach Verlassen des staatlichen Zweitaufnahmesystems nicht gelingen wird, seine elementarsten Bedürfnisse durch die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit zu erfüllen. Die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit ist anerkannten Flüchtlingen erlaubt [...].

47 Das wirtschaftliche Existenzminimum ist immer dann gesichert, wenn erwerbsfähige Personen durch eigene, notfalls auch wenig attraktive und ihrer Vorbildung nicht entsprechende Arbeit, die grundsätzlich zumutbar ist, oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu ihrem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen können, wobei zu den im vorstehenden Sinne zumutbaren Arbeiten auch Tätigkeiten zählen, für die es keine Nachfrage auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt gibt, die nicht überkommenen Berufsbildern entsprechen und die nur zeitweise, etwa zur Deckung eines kurzfristigen Bedarfs, beispielsweise während der Touristensaison, ausgeübt werden können, selbst wenn diese im Bereich der sogenannten "Schatten- oder Nischenwirtschaft" angesiedelt sind (BVerwG, B.v. 17.1.2022 – 1 B 66.21 – Rn. 29 m.w.N.). Dass es insoweit dem jungen, gesunden und alleinstehenden Kläger unmöglich sein wird, sich als anerkannt Schutzberechtigter ein Existenzminimum zu erwirtschaften, erscheint daher als wenig wahrscheinlich. [...].

48 ff) Der Senat ist daher der Auffassung, dass der gesunde, arbeitsfähige und alleinstehende Kläger, der in Italien noch keinen förmlichen Asylantrag gestellt hat, derzeit in Italien grundsätzlich weder im Zeitpunkt der Rücküberstellung noch während des Asylverfahrens und auch nicht nach Zuerkennung von internationalem Schutz unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen durch systematische Schwachstellen gem. Art. 3 Abs. 2 UA 2 Dublin III-VO oder sonstige Umstände dem "real risk" einer unmenschlichen oder entwürdigenden Behandlung im Sinne von Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK ausgesetzt wird. [...]