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Zitieren als:
BSG, Urteil vom 04.11.2021 - B 6 KA 16/20 R - asyl.net: M31585
https://www.asyl.net/rsdb/m31585
Leitsatz:

Zur Ermächtigung zur psychotherapeutischen Behandlung gemäß § 31 Abs. 1 S. 2 Ärzte-ZV:

"1. Eine Ermächtigung zur psychotherapeutischen Versorgung von Menschen, die auf der Flucht nach Deutschland traumatisiert worden sind, kann auch Therapeuten erteilt werden, die diesen Personenkreis noch nicht während des Aufenthalts in Deutschland in den ersten 18 Monaten behandelt haben.

2. In der Zulassungsverordnung für Vertragsärzte dürfen für besondere Bedarfslagen auch Ermächtigungs­tatbestände geschaffen werden, die keine konkrete Bedarfsprüfung durch die Zulassungsgremien vorsehen."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Psychotherapie, Posttraumatische Belastungsstörung, Sozialrecht, Anspruch, Behandlung, Krankenversicherung, psychische Erkrankung,
Normen: Ärzte-ZV § 31 Abs. 1 S. 2, SGB V § 98 Abs. 2 Nr. 11, SGB V § 98 Abs. 1, SGB V § 27 Abs. 1 S. 2 Nr. 1, AsylbLG § 2, SGB XII § 48
Auszüge:

[...]

19 Der Beklagte hat der Beigeladenen zu 1. zu Recht eine Ermächtigung zur Teilnahme an der vertragspsychotherapeutischen Versorgung von Empfängern laufender Leistungen nach § 2 AsylbLG, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, erteilt. [...]

21 2. Entgegen der Auffassung der Klägerin setzt der Anspruch auf Erteilung der Ermächtigung nicht voraus, dass die die Ermächtigung begehrenden Leistungserbringer bereits Geflüchtete vor Eintreten des Leistungsanspruchs nach § 2 AsylbLG im Kostenerstattungsverfahren nach §§ 4, 6 AsylbLG behandelt haben, und die Ermächtigung ist auch nicht auf die Weiterbehandlung dieser Personen zu beschränken. [...]

22 a) § 31 1 Satz 2 Ärzte-ZV regelt eine Ermächtigung, die zur Behandlung eines genau umschriebenen Personenkreises zu erteilen ist. Dieser Personenkreis umfasst nach dem Wortlaut der Norm Empfänger laufender Leistungen nach § 2 AsylbLG, die die dort genannten Formen schwerer Gewalt erlitten haben. Der Wortlaut des § 31 1 Satz 2 Ärzte-ZV enthält keine Beschränkung der Ermächtigung auf die Fortsetzung bereits begonnener Behandlungen. [...]

24 Der Anspruch auf psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung nach § 2 AsylbLG richtet sich nach § 48 SGB XII, der eine entsprechende Anwendung der §§ 27 ff. SGB V vorsieht. Der Anspruch auf ärztliche Behandlung einschließlich Psychotherapie als ärztliche und psychotherapeutische Behandlung nach § 27 1 Satz 2 Nr. 1 SGB V setzt nicht voraus, dass bereits vor Eintritt dieses Leistungsanspruchs eine Behandlung - etwa unter dem Leistungsregime der §§ 4, 6 AsylbLG - stattgefunden hat. Erforderlich ist nach § 27 1 SGB V allein, dass die Behandlung notwendig ist, um eine Krankheit zu erkennen, zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu lindern. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG ist eine Krankheit im Sinne der GKV "ein regelwidriger, vom Leitbild des gesunden Menschen abweichender Körper- oder Geisteszustand, der ärztlicher Behandlung bedarf oder den Betroffenen arbeitsunfähig macht" [...]. Weder § 27 SGB V noch § 48 SGB XII oder § 2 AsylbLG ist damit zu entnehmen, dass insbesondere der Anspruch auf psychiatrische oder psychotherapeutische Behandlung in irgendeiner Weise davon abhängt, ob und von wem ein geflüchteter traumatisierter Mensch in einer Erstaufnahmeeinrichtung versorgt worden ist. [...]

50 b) Nach § 98 Abs. 2 Nr. 11 SGB V müssen die Zulassungsverordnungen u.a. Vorschriften enthalten über die Voraussetzungen, unter denen Ärzte zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung ermächtigt werden können.

51 § 98 Abs. 2 SGB V enthält eine nicht abschließende Aufzählung spezifischer Regelungen, die in den Zulassungsverordnungen zwingend enthalten sein müssen. Die in § 98 Abs. 2 Nr. 11 SGB V geforderten Regelungen über die Ermächtigung zur Teilnahme an der vertragsärztlichen Versorgung sind in §§ 31, 31a Ärzte-ZV enthalten. Für die Erteilung von Ermächtigungen nach § 31 Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV, § 31a Abs. 1 Satz 1 Ärzte-ZV ist den Zulassungsausschüssen regelmäßig Ermessen hinsichtlich des "Ob" und "Wie" einer Ermächtigung eingeräumt. § 31 Abs. 1 Satz 2 Ärzte-ZV sieht dagegen keine Ermessensentscheidung der Zulassungsausschüsse vor, sondern gewährt bei Erfüllung der Voraussetzungen einen Anspruch auf Ermächtigung in dem genannten Umfang. Damit wurde der Rahmen des § 98 2 Nr. 11 SGB V jedoch nicht verlassen.

52 Richtig ist zwar, dass § 98 2 Nr. 11 SGB V Vorschriften fordert, unter denen Ermächtigungen zur vertragsärztlichen Versorgung erteilt werden "können". Die Wendung, dass die Behörde eine bestimmte Entscheidung treffen "kann", bezeichnet im Allgemeinen, dass der Behörde auch bei Erfüllung aller Voraussetzungen ein Ermessensspielraum für die Entscheidung verbleibt. Die Annahme eines solchen Spielraums bei der Verwendung des Wortes "können" im Gesetzestext ist jedoch nicht zwingend. Das Wort kann auch lediglich die Befugnis einer Behörde für ein Verwaltungshandeln bezeichnen (sog Kompetenz-Kann) (vgl. BFH Urteil vom 9.8.2011 - VII R 46/10 - BFHE 236, 189 - HFR 2012, 781 = NVwZ-RR 2012, 425 RdNr. 8). Wenn § 98 2 Nr. 11 SGB V eine gegenüber § 98 1 SGB V speziellere Ermächtigungsgrundlage und nicht lediglich einen Regelungsauftrag enthält, ist davon auszugehen, dass mit der Vorschrift lediglich eine Kompetenz der Zulassungsgremien bezeichnet werden soll, nicht aber bereits Vorgaben für die konkrete Entscheidung durch die Zulassungsgremien unter Zubilligung eines Ermessensspielraums gemacht werden sollen.

53 Auch der für sich genommen richtige Einwand der Klägerin, über § 98 2 Nr. 11 SGB V dürfte in der Ärzte-ZV kein zweiter, gegenüber der Zulassung gleichwertiger Zugang zur vertragsärztlichen Versorgung geschaffen werden, rechtfertigt keine andere Beurteilung. Die Bedarfsprüfung durch die Zulassungsgremien ist für die Abgrenzung der Ermächtigung gegenüber der Zulassung zwar generell von Bedeutung. Das schließt aber nicht aus, dass in besonders gelagerten Fällen der Bedarf nicht im Einzelfall von den Zulassungsgremien, sondern generell vom Normgeber der Ärzte-ZV festgestellt wird. Der gegenüber der Zulassung subsidiäre Charakter der Ermächtigung wird deshalb nicht dadurch verletzt, dass der Gesetzgeber 2015 davon ausgegangen ist, bundesweit bestehe ein von den zugelassenen Ärzten und Psychotherapeuten nicht hinreichend gedeckter Bedarf für die Behandlung traumatisierter Flüchtlinge. Der Gesetzgeber durfte sich dabei auch von der Erwägung leiten lassen, dass dieser Personenkreis den Bedarf individuell kaum wirksam artikulieren kann, weil er eben nicht Mitglied einer Krankenkasse ist, die die Zulassungsgremien mit entsprechenden Daten über Versorgungsengpässe und Wartezeiten konfrontieren könnte. [...]