Aufhebung der Unzulässigkeitsentscheidung gegen Personen mit internationalem Schutz in Ungarn:
1. Einer psychisch kranken alleinstehenden Frau mit drei minderjährigen Kindern, die in Ungarn als schutzberechtigt anerkannt wurde, droht dort unmenschliche und erniedrigende Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK.
2. Die Frau und ihre minderjährigen Kinder sind vulnerable Personen im Sinne der EU-Aufnahmerichtlinie.
3. Nicht allen schutzberechtigten und schutzsuchenden Personen droht eine Art. 3 EMRK-Verletzung.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
Nach den aktuellen Erkenntnismitteln geht das Gericht nicht davon aus, dass die Aufnahmebedingungen für anerkannt Schutzberechtigte in Ungarn grundsätzlich so ausgestaltet sind, dass bei einer Überstellung generell von der Gefahr einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung i.S.v. Art. 4 EUGrCh bzw. Art. 3 EMRK auszugehen ist. [...]
Dies gilt jedoch nicht für den vorliegenden Fall, in dem eine alleinstehende Frau (mit psychischen Problemen) zusammen mit ihren 1986, 1988 und 2019 geborenen Kindern nach Ungarn zurückkehren müsste. Es ist nicht davon auszugehen, dass der Ehemann und Vater mit ihnen ausreisen wird, da sich die Klägerin zu 1. dauerhaft von diesem getrennt hat. Insofern wird auch auf das Gewaltschutzverfahren verwiesen.
Im Einzelnen liegen dem die folgenden Erwägungen zugrunde:
(1) Die Kläger sind einer vulnerablen Gruppe zuzuordnen.
Ob eine Person der Gruppe der vulnerablen Personen zuzuordnen ist, ist unter Berücksichtigung insbesondere von Art. 21 der Aufnahme-RL 2013/33/EU zu bestimmen. Danach berücksichtigen die Mitgliedstaaten "die spezielle Situation von schutzbedürftigen Personen wie Minderjährigen, unbegleiteten Minderjährigen, Behinderten, älteren Menschen, Schwangeren, Alleinerziehenden mit minderjährigen Kindern, Opfern des Menschenhandels, Personen mit schweren körperlichen Erkrankungen, Personen mit psychischen Störungen und Personen, die Folter, Vergewaltigung oder sonstige schwere Formen psychischer, physischer oder sexueller Gewalt erlitten haben, wie z.B. Opfer der Verstümmelung weiblicher Genitalien". Vergleichbares ist in Art. 20 Abs. 3 der Anerkennungs-RL 2011/95/EU geregelt; nach Absatz 4 der Norm muss diesbezüglich ausdrücklich eine "Einzelprüfung" durchgeführt werden. Für die Frage der Vulnerabilität ist dabei immer auf die individuellen Umstände der Person abzustellen (vgl. auch VGH Mannheim, B. v. 13.10.2022 - A 4 S 2182/22 -, juris, Rn. 6). Bei der Klägerin zu 1.) besteht der begründete Verdacht, dass sie an einer psychischen Erkrankung seit Jahren leidet. Auch wenn kein den Ansprüchen des § 60a Abs. 2c AufenthG genügendes ärztliches Gutachten hierzu vorgelegt wurde, ergibt sich aus den ärztlichen Befundberichten hinlänglich, dass die Klägerin suizidgefährdet war und auf die Einnahme von Medikamenten zur Stabilisierung angewiesen ist. Weiterhin besteht der Verdacht, dass sie jahrelang von ihrem Ehemann missbraucht und vergewaltigt wurde. Unabhängig hiervon würde sie als alleinstehende Frau mit drei minderjährigen Kindern nach Ungarn zurückkehren müssen. Ihre Kinder sind 12, 9 und 3 Jahre alt.
(2) In Hinblick auf die Aufnahmebedingungen droht anerkannt Schutzberechtigten in Ungarn im Falle ihrer Rückkehr im Regelfall keine Situation extremer materieller Not. [...]
Nach diesen vorliegenden Erkenntnissen geht das Gericht davon aus, dass im Fall der Kläger, einer vulnerablen Personengruppe, es an der notwendigen Sicherstellung der wirtschaftlichen Existenzgrundlage auf dem durch Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EUGrCh geforderten Niveau fehlt, da weder staatliche Unterbringungs- oder Unterstützungsleistungen noch hinreichend gesicherte Leistungen privater Organisationen für anerkannt Schutzberechtigte zur Verfügung stehen. Allein die Suche nach einer geeigneten menschenwürdigen Unterkunft für eine vierköpfige Familie ohne staatliche Hilfe und ohne Einkommen dürfte überaus schwierig bis aussichtslos sein. Wie oben bereits ausgeführt, dürfte es auch nicht möglich sein, über Hilfsorganisationen angemessenen Wohnraum zu erlangen. Im Übrigen ist es den Klägern gerade auch im Hinblick auf das Kleinkind im Alter von drei Jahren nicht ausreichend und zumutbar, dass diese lediglich übergangsweise provisorisch untergebracht werden würden. Gleiches gilt für die Sicherung des Lebensunterhalts. Dieser ist - wie oben bereits dargelegt - weder aufgrund staatlicher noch nichtstaatlicher Leistungen gewährleistet. Es kann im vorliegenden Fall auch nicht davon ausgegangen werden, dass die Klägerin zu 1.) in der Lage wäre, auch nur ein Existenzminimum für sich und die Kinder zu erwirtschaften. Unabhängig davon, dass sie aufgrund ihrer seelischen Erkrankung möglicherweise nicht in der Lage wäre, sich in Ungarn eine Arbeit zu suchen, und die Unterbringungsmöglichkeiten ihrer Kinder nicht verlässlich feststeht, dürfte es ihr mit einem durchschnittlichen Einkommen nicht möglich sein, das für den Lebensunterhalt Erforderliche für die gesamte Familie zu verdienen. Dies gilt insbesondere für einen in den Blick zu nehmenden erweiterten Prognosespielraum (vgl. EuGH, U. v. 19.03.2019 - C-163/17 - Jawo, juris, Rn. 87ff; ebenso VGH Mannheim, U. v. 29.07.2019 - A 4 S 749/19 -, juris, Rn. 40; VG Aachen, B. v. 24.03.2022 - 5 L 199/22.A -, juris; VG Dresden, B. v. 07.09.2021 - 12 L 893/20.A -, juris). [...]