Zur Unzumutbarkeit der Nachholung des Visumverfahrens:
Die Nachholung des Visumverfahren kann auch dann unzumutbar sein, wenn eine Krankheit oder Pflegebedürftigkeit eines Ehegatten zur Folge hat, dass dieser in höherem Maße als im Regelfall einer ehelichen Lebensgemeinschaft auf den persönlichen Beistand des anderen Ehegatten angewiesen ist.
(Leitsätze der Redaktion)
[...]
24 Zwar setzt die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis gemäß der allgemeinen Erteilungsvoraussetzung in § 5 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 und 2 AufenthG grundsätzlich voraus, dass der betreffende Ausländer mit dem erforderlichen Visum eingereist ist und die für die Erteilung maßgeblichen Angaben bereits im Visumantrag gemacht hat. Hiervon kann jedoch nach § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG abgesehen werden, wenn es dem Ausländer aufgrund besonderer Umstände des Einzelfalls nicht zumutbar ist, das Visumverfahren nachzuholen. Von dieser Vorschrift werden solche Fälle erfasst, in denen das Aufsuchen der deutschen Auslandsvertretung im Herkunftsstaat mit besonderen Schwierigkeiten verbunden ist. Diese können zum Beispiel auf Krankheit, Schwangerschaft, Alter, einer schützenswerten Beziehung zu einem Kind oder Ehepartner oder auf einer Behinderung beruhen, die eine Reise unmöglich machen (vgl. Beschlüsse des Senats vom 8.4.2022 – 2 B 26/22, 2 D 27/22 – sowie vom 8.5.2019 – 2 B 38/19 -, juris; Bender/Leuschner,in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Aufl. 2016, § 5 AufenthG Rn. 38). Auch die Krankheit oder die Pflegebedürftigkeit eines Ehegatten, die zur Folge haben kann, dass dieser in höherem Maße als im Regelfall einer ehelichen Lebensgemeinschaft auf den persönlichen Beistand seines Ehegatten angewiesen ist, kann die Nachholung des Visumsverfahrens unzumutbar machen (vgl. OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 5.11.2019 – 2 M 86/19 –, juris, Rn. 12).
25 Im Fall der Antragstellerin liegen besondere Umstände vor, die voraussichtlich ausnahmsweise ein Absehen von der Einholung des erforderlichen Visums gemäß § 5 Abs. 2 Satz 2 Alt. 2 AufenthG gebieten. Das dem Antragsgegner durch § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG eingeräumte Ermessen, von den Anforderungen abzusehen, dürfte sich mit Blick auf die Lage der Antragstellerin im vorliegenden Fall auf Null verdichten. In Anbetracht des Gesundheitszustandes ihres Ehemannes ist es der Antragstellerin zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht zumutbar, dass sie – wie vom Verwaltungsgericht angenommen – nach Albanien reist und sich dort für die Dauer der Bearbeitungszeit des Visums aufzuhalten.
26 Der Ehemann der Antragstellerin leidet an diversen motorischen Einschränkungen. [...] Diese Bewertung stimmt mit dem durch die Antragstellerin im Rahmen der Beschwerdebegründung vorgelegten Neufeststellungsbescheid vom … 2023 betreffend den Grad der Behinderung (GdB) ihres Ehemannes überein, der – wie bereits der Feststellungsbescheid vom … 2019 – u.a. eine Funktionsstörung des Bewegungsapparates bei degenerativen Veränderungen mit einem Teil-GdB von 20 v. 100 ausweist. [...]
27 Daneben tritt ein Zustand nach Schlaganfall (hier: Hirnschlag), den der Ehemann der Antragstellerin am 7.3.2022 erlitten hat. Die bestehende Hirnschädigung wird in dem Neufeststellungsbescheid vom 9.2.2023 erstmals mit einem Teil-GdB von 20 v. 100 ausgewiesen. [...]
28 Zu den motorischen Einschränkungen sowie dem erhöhten Risiko eines erneuten Hirnschlags tritt im Fall des Ehemannes der Antragstellerin eine ausgeprägte psychische Erkrankung hinzu. [...]
29 Nach der Bescheinigung der behandelnden Fachärztin für Allgemeinmedizin vom … 2023 ist der Ehemann der Antragstellerin aufgrund der muskulären Hypothonie auf die körperliche Unterstützung seiner Ehefrau angewiesen, sobald er das Haus verlässt und Arbeiten im Haushalt verrichtet, wobei er – bedingt durch die körperlichen Einschränkungen und bereits erfolgte Stürze – eine Angststörung mit Panikattacken entwickelt hat. Nach der ärztlichen Einschätzung erfordern auch die starken depressiven Episoden eine Unterstützung durch die Antragstellerin. In dem Attest des weiteren behandelnden Facharztes für Allgemeinmedizin vom 10.1.2023 wurde ein Bedarf der Unterstützung durch die Antragstellerin in Folge des erlittenen Hirnschlags sowie der muskulären Einschränkung ebenfalls bereits bestätigt. Diese ärztlichen Bewertungen werden durch die Bescheinigung der Ergotherapeutin gestützt, die aufgrund der bestehenden Bewegungseinschränkungen ebenfalls einen körperlichen – wie auch mentalen – Hilfebedarf gesehen hat. [...]
30 Im Hinblick auf die psychische Erkrankung des Ehemannes kann zudem nicht unbeachtet bleiben, dass die neurologischen Krankheitsbilder des Ehemannes ausweislich des fachärztlichen Attestes vom … 2022 mit einer– überwundenen – Alkoholabhängigkeit verzahnt waren. [...]
31 Für die Frage, ob der Ehegatte auf die Unterstützung des Ehepartners angewiesen ist, kommt es überdies nicht darauf an, ob die Pflege des Ehemannes auch durch einen ambulanten Pflegedienst oder durch eine stationäre Pflege übernommen werden könnte, da das Selbstbestimmungsrecht der Ehegatten hinsichtlich der persönlichen Lebensführung und die Bestimmung des grundrechtlichen Schutzes auch anhand von § 1353 Abs. 1 Satz 2 BGB für § 5 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auslegungsleitend sind. Entscheidend ist die tatsächliche Verbundenheit in einer ehelichen Beistandsgemeinschaft und die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe, die nicht schon dann entfällt, wenn bestimmte Pflegeleistungen von hierzu speziell ausgebildeten Fachkräften übernommen werden könnten (vgl. BVerfG, Beschluss vom 17.5.2011 – 2 BvR 1367/10 –, juris, Rn. 21 sowie VGH Bayern, Beschluss vom 24.4.2019 – 10 CS 18.2542 –, juris, Rn. 8 f.). [...]