LSG Schleswig-Holstein

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Zitieren als:
LSG Schleswig-Holstein, Beschluss vom 05.04.2023 - L 9 AY 19/23 B ER - asyl.net: M31568
https://www.asyl.net/rsdb/m31568
Leitsatz:

Sozialrechtlicher Rechtskreiswechsels bei abgelehntem Asylantrag und Feststellung eines Abschiebungsverbots:

1. Auch wenn die Ablehnung des Asylantrags mit der Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG endet, ist die antragstellende Person vollziehbar ausreisepflichtig und unterfällt damit nicht dem SGB II, sondern dem AsylbLG. Der Aufenthaltstitel wird nämlich erst mit dessen Aushändigung wirksam.

2. Der Eintritt der Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG scheitert in einem solchen Fall an der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts, weil der Aufenthalt bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis geduldet wird. Eine zu Unrecht ausgestellte Fiktionsbescheinigung ändert daran nichts, weil sie nur deklaratorisch wirkt.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Sozialrecht, SGB II, Abschiebungsverbot, Aufenthaltstitel, Fiktionswirkung,
Normen: AufenthG § 25 Abs. 3, AufenthG § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2, AufenthG § 60 Abs. 5, AufenthG § 81 Abs. 3, AsylbLG § 1, AsylbLG § 2, SGB II § 7 Abs. 1
Auszüge:

[...]

Zu Unrecht ist das Sozialgericht davon ausgegangen, dass der Antragsteller bereits zum Rechtskreis des SGB II gehört. Er gehört vielmehr weiterhin zum leistungsberechtigten Personenkreis nach § 1 AsylbLG und ist deshalb gemäß § 7 Abs. 1 Nr. 3 SGB II vom Bürgergeld ausgeschlossen. Der Antragsteller unterfällt § 1 Abs. 1 Nr. 5 AsylbLG. Danach sind leistungsberechtigt nach dem AsylbLG Ausländer, die sich im Bundesgebiet tatsächlich aufhalten und die vollziehbar ausreisepflichtig sind, auch wenn eine Abschiebungsandrohung noch nicht oder nicht mehr vollziehbar ist. Diese Voraussetzungen liegen vor.

Der Antragsteller ist, auch wenn infolge der – bestandskräftig gewordenen – Ablehnung seines Asylantrags ein Abschiebeverbot nach § 60 Abs. 5 AsylbLG festgestellt worden war, vollziehbar ausreisepflichtig. Er ist nach § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, weil er den erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt. Zwar hat er einen Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 3 AufenthG beantragt und ist ein solcher aktenkundig gefertigt worden. Der Aufenthaltstitel ist dem Antragsteller jedoch, weil das Erteilungsverfahren wegen eines weiteren Strafermittlungsverfahrens nach § 79 Abs. 2 AufenthG ausgesetzt worden ist, noch nicht ausgehändigt und damit noch nicht bekannt gegeben worden. Er ist demgemäß noch nicht wirksam geworden (vgl. § 112 Abs. 1 Satz 1 Landesverwaltungsgesetz [LVwG]).

Die Ausreisepflicht ist auch vollziehbar. Nach § 58 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AufenthG ist die Ausreisepflicht u.a. vollziehbar, wenn der Ausländer noch nicht die erstmalige Erteilung des erforderlichen Aufenthaltstitels oder noch nicht die Verlängerung beantragt hat oder trotz erfolgter Antragstellung der Aufenthalt nicht nach § 81 Abs. 3 als erlaubt oder der Aufenthaltstitel nach § 81 Abs. 4 nicht als fortbestehend gilt. Auch diese Voraussetzungen liegen hier vor.

Anders als das Sozialgericht und die Antragsgegnerin geht der Senat davon aus, dass der Aufenthalt des Antragstellers nicht nach § 81 Abs. 3 AufenthG als erlaubt gilt. Nach § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG gilt der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, und der die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt. Wird der Antrag dagegen verspätet gestellt, gilt ab dem Zeitpunkt der Antragstellung bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde die Abschiebung als ausgesetzt (§ 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG). Daran gemessen scheitert der Eintritt der Fiktionswirkung an der Rechtmäßigkeit des Aufenthalts im Bundesgebiet bei Antragstellung. [...]

Wird lediglich ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG festgestellt, ist der Ausländer bis zur Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG zu dulden (Samel, a.a.O., § 81 AufenthG Rn. 39 a.E.). Selbst wenn eine solche Duldung erteilt wäre oder aber – dem Rechtsgedanken des § 81 Abs. 3 Satz 2 AufenthG entsprechend – von der Fiktion einer Duldung ausgegangen werden könnte, änderte dies an der Leistungsberechtigung des Antragstellers nach dem AsylbLG nichts; sie ergäbe sich dann nach § 1 Abs. 1 Nr. 4 AsylbLG.

Dass dem Antragsteller – offenbar zu Unrecht – Fiktionsbescheinigungen nach § 81 Abs. 3 bzw. 4 AufenthG ausgestellt worden sind, ändert nichts an der Zugehörigkeit des Antragstellers zum leistungsberechtigten Personenkreis nach dem AsylbLG, denn die Fiktionsbescheinigung wirkt lediglich deklaratorisch und vermag einen tatsächlich nicht bestehenden Rechtsstatus nicht konstitutiv zu begründen (BVerwG, Beschluss vom 21. Januar 2010 – 1 B 17/09 u.a. – juris Rn. 7; vgl. auch Samel in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 81 AufenthG Rn. 47 m.w.N.). [...]