VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 11.05.2023 - 39 K 162/22 A - asyl.net: M31560
https://www.asyl.net/rsdb/m31560
Leitsatz:

Aufhebung einer Abschiebungsandrohung gegen den Vater eines Kleinkindes im Asylverfahren:

1. Bei Ergehen einer Abschiebungsandrohung auf asylrechtlicher Grundlage müssen inlandsbezogene Vollstreckungshindernisse bereits bei Erlass geprüft werden und nicht erst durch die Ausländerbehörde.

2. Aufgrund des sehr jungen Alters des Säuglings (2 Wochen) und des Umstands, dass dessen Mutter sich noch im Mutterschutz befindet, erscheint eine vorübergehende Trennung zwecks Durchführung eines Visumverfahren wegen des Kindeswohls nicht zumutbar.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Beschluss vom 15. Februar, EuGH - C-484/22 BR Deutschland gg. GS - asyl.net: M31329)

Schlagwörter: Rückkehrentscheidung, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, familiäre Bindungen, Kindeswohl, minderjährige Kinder, Kleinkind, inländisches Vollstreckungshindernis
Normen: AsylG § 34 Abs. 1 Satz 1, AufenthG § 60a Abs. 2 Satz 1, RL 2008/115/EG Art. 5
Auszüge:

[...]

Die Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist dagegen rechtswidrig. Sie steht im Widerspruch zu Vorschriften der Richtlinie 2008/115/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 - RückführungsRL. Nach der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union - EuGH - sind bei dem Erlass eine Rückkehrentscheidung gemäß Art. 5 Buchst. a und b RückführungsRL das Wohl des Kindes in allen Stadien des Verfahrens und die familiären Bindungen der betroffenen Person in gebührender Weise zu berücksichtigen. Ergeht die Abschiebungsandrohung wie vorliegend auf asylrechtlicher Grundlage, genügt es nicht, dass inländische Vollstreckungshindernisse aus familiären Gründen erst durch die Ausländerbehörde geprüft werden und zur Erteilung einer Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung führen (vgl. EuGH, Urteil vom 15. Februar 2023 - 484/22 [GS]). Diese Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs ist entsprechend dem Sinn und Zweck von Art. 5 der Rückführungsrichtlinie, der nicht eng ausgelegt werden darf (vgl. EuGH, Beschluss vom 15. Februar 2023, a.a.O., Rn. 23), auch auf den Erlass einer Rückkehrentscheidung gegenüber den Eltern eines minderjährigen Kindes übertragbar; denn das Kindeswohl kann hierdurch gleichermaßen beeinträchtigt werden. Eine Abschiebung des Klägers in die Türkei hätte eine Trennung des Kindes von seinem Vater zur Folge und würde die familiären Bindungen des Klägers und das Kindeswohl in erheblichem Maße beeinträchtigen. Angesichts des sehr jungen Alters des erst am ... 2023 geborenen Kindes, dessen Mutter sich aktuell noch im Mutterschutz befinden dürfte, erscheint vorliegend auch eine vorübergehende Trennung des Kindes von seinem Vater zur Durchführung eines Visumsverfahrens zum Familiennachzug mit Blick auf das Kindeswohl als unzumutbar (vgl. BVerfG, Beschluss vom 9. Dezember 2021 - 2 BvR 1333/21 - juris Rn. 48). [...]