EuGH

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Zitieren als:
EuGH, Urteil vom 09.02.2023 - C-402/21 S., E. und C. gegen Niederlande - asyl.net: M31548
https://www.asyl.net/rsdb/m31548
Leitsatz:

Zur Aufenthaltsbeendigung assoziationsberechtigter türkischer Staatsangehöriger wegen neuer Regelungen:

1. Türkische Staatsangehörige, die gemäß Art. 6 und Art. 7 ARB 1/80 freizügigkeitsberechtigt sind, können sich auf Art. 13 ARB 1/80 berufen, wenn nationale Behörden ihnen das Aufenthaltsrecht auf der Grundlage von Gesetzen entziehen, die nach dem ARB 1/80 in Kraft getreten sind. Denn Art. 13 ARB 1/80 verbietet grundsätzlich die Einführung neuer innerstaatlicher Regelungen, die die Ausübung der Arbeitnehmer*innenfreizügigkeit durch türkische Staatsangehörige in einem Mitgliedstaat einschränken.

2. Eine innerstaatliche Regelung, die gegen das Verbot aus Art. 13 ARB 1/80 verstößt, kann gemäß Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 aus Gründen der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt sein. Die in Art. 14 Abs. 1 ARB 1/80 vorgesehene Rechtfertigungsmöglichkeit ist jedoch eng auszulegen und kommt nur in Betracht, sofern die Regelung geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: EuGH, Urteil vom 08.12.2011 - C-371/08 - asyl.net: M19257)

Schlagwörter: türkische Staatsangehörige, Assoziationsberechtigte, aufenthaltsbeendende Maßnahmen, Straftat, gegenwärtige Gefahr der öffentlichen Ordnung, Stillhalteklausel, Türkischer Arbeitnehmer, Assoziationsratsbeschluss EWG/Türkei,
Normen: ARB 1/80 Art. 6, ARB 1/80 Art. 7, ARB 1/80 Art. 13, ARB 1/80 Art. 14 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 3
Auszüge:

[...]

49 Mit seiner ersten Frage möchte das vorlegende Gericht wissen, ob Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er von türkischen Staatsangehörigen mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses geltend gemacht werden kann.

50 Insoweit ergibt sich aus dem Wortlaut von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80, dass dieser eine Stillhalteklausel enthält, die den Mitgliedstaaten die Einführung neuer Beschränkungen der Bedingungen für den Zugang zum Arbeitsmarkt für türkische Arbeitnehmer und ihre Familienangehörigen untersagt, deren Aufenthalt und Beschäftigung in ihrem Hoheitsgebiet ordnungsgemäß sind. [...]

52 Nach ebenfalls ständiger Rechtsprechung verbietet die Stillhalteklausel jedoch allgemein die Einführung neuer innerstaatlicher Maßnahmen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn beim Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 in dem betreffenden Mitgliedstaat galten [...].

57 Im vorliegenden Fall geht aus dem Vorabentscheidungsersuchen hervor, dass die Ausgangsverfahren ihren Ursprung darin haben, dass die zuständigen niederländischen Behörden das Aufenthaltsrecht der Betroffenen in Anwendung von nationalen Rechtsvorschriften entzogen haben, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung erlassen wurden. Diese nationalen Rechtsvorschriften, die nach Inkrafttreten des Beschlusses Nr. 1/80 im niederländischen Hoheitsgebiet eingeführt wurden, erlauben es den zuständigen Behörden, einem türkischen Arbeitnehmer, der sich seit mehr als 20 Jahren rechtmäßig in diesem Hoheitsgebiet aufhält und aus diesem Grund Rechte aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich oder Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 genießt, das Aufenthaltsrecht zu entziehen und ihn auszuweisen, wenn er eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt.

58 Insoweit ergibt sich aus der Rechtsprechung, dass Maßnahmen eines Mitgliedstaats, mit denen die Kriterien für die Rechtmäßigkeit der Lage der türkischen Staatsangehörigen festgelegt werden sollen, indem u. a. die Voraussetzungen für den Aufenthalt dieser Staatsangehörigen im Gebiet dieses Staates erlassen oder geändert werden, neue Beschränkungen im Sinne von Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 darstellen können (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 7. November 2013, Demir, C-225/12, EU:C:2013:725, Rn. 38 und 39).

59 Folglich schränken nationale Rechtsvorschriften, die den Entzug der Aufenthaltsrechte der Betroffenen aus Art. 6 Abs. 1 dritter Gedankenstrich und Art. 7 Abs. 2 des Beschlusses Nr. 1/80 gestatten, deren Recht auf Freizügigkeit gegenüber demjenigen ein, über das sie bei Inkrafttreten dieses Beschlusses verfügten, und stellen daher eine neue Beschränkung im Sinne von Art. 13 des Beschlusses dar.

60 Nach alledem ist auf die erste Frage zu antworten, dass Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass er von türkischen Staatsangehörigen mit Rechten aus Art. 6 oder Art. 7 dieses Beschlusses geltend gemacht werden kann. [...]

61 Mit seiner zweiten und seiner dritten Frage, die zusammen zu prüfen sind, möchte das vorlegende Gericht im Wesentlichen wissen, ob Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich türkische Staatsangehörige auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen können, um sich gegen die Anwendung einer "neuen Beschränkung" im Sinne dieser Bestimmung zu wehren, nach der die zuständigen nationalen Behörden eines Mitgliedstaats ihr Aufenthaltsrecht mit der Begründung beenden können, dass sie nach deren Ansicht eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellen. Falls dies bejaht wird, möchte das vorlegende Gericht wissen, ob und unter welchen Voraussetzungen eine solche Beschränkung nach Art. 14 des Beschlusses gerechtfertigt werden kann.

62 In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuweisen, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 den Mitgliedstaaten die Möglichkeit einräumt, von den Bestimmungen dieses Beschlusses, die türkischen Arbeitnehmern bestimmte Rechte verleihen, abzuweichen.

63 Danach kann nämlich die Anwendung des Abschnitts des Beschlusses Nr. 1/80 betreffend die Beschäftigung und die Freizügigkeit der Arbeitnehmer Beschränkungen unterworfen werden, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigt sind.

64 Daraus folgt, dass eine Maßnahme, die gegen das Verbot in Art. 13 des Beschlusses Nr. 1/80 verstößt, neue innerstaatliche Maßnahmen zu erlassen, die bezwecken oder bewirken, dass die Ausübung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch einen türkischen Staatsangehörigen in einem Mitgliedstaat strengeren Voraussetzungen als denjenigen unterworfen wird, die für ihn zum Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Beschlusses in dem betreffenden Mitgliedstaat galten, aus Gründen der öffentlichen Ordnung im Sinne von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses gerechtfertigt sein kann (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 2. September 2021, Udlændingenævnet, C-379/20, EU:C:2021:660, Rn. 22 und 23 sowie die dort angeführte Rechtsprechung). [...]

66 Da die in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 vorgesehene Ausnahme eine Abweichung von der Grundfreiheit der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellt, ist sie jedoch eng auszulegen, und ihr Umfang kann nicht einseitig von den Mitgliedstaaten bestimmt werden (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C-371/08, EU:C:2011:809, Rn. 81).

67 Im vorliegenden Fall fragt sich das vorlegende Gericht, unter welchen Voraussetzungen eine neue Maßnahme, die wie die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme gegen die Stillhalteklausel verstößt, als durch Erfordernisse der öffentlichen Ordnung gerechtfertigt angesehen werden kann. Insbesondere fragt es sich, ob die Verschärfung der gleitenden Skala, die diese nationale Maßnahme aufgrund geänderter gesellschaftlicher Anschauungen vorsieht, der restriktiven Auslegung des Begriffs "öffentliche Ordnung" hinreichend Rechnung trägt und ob sie in den Wertungsspielraum des betreffenden Mitgliedstaats fällt. [...]

71 Zur Situation eines türkischen Staatsangehörigen, der sich wie die Betroffenen seit mehr als zehn Jahren im Aufnahmemitgliedstaat aufhält, hat der Gerichtshof im Übrigen entschieden, dass Art. 12 der Richtlinie 2003/109 der Bezugsrahmen für die Anwendung von Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 ist. Aus diesem Bezugsrahmen ergibt sich erstens, dass ein langfristig Aufenthaltsberechtigter nur ausgewiesen werden kann, wenn er eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder die öffentliche Sicherheit darstellt; zweitens, dass die Ausweisungsverfügung nicht auf wirtschaftlichen Überlegungen beruhen darf; und drittens, dass die zuständigen Behörden des Aufnahmemitgliedstaats, bevor sie eine solche Verfügung erlassen, die Dauer des Aufenthalts der betreffenden Person im Hoheitsgebiet dieses Staates, ihr Alter, die Folgen einer Ausweisung für die betreffende Person und ihre Familienangehörigen sowie ihre Bindungen zum Aufenthaltsstaat oder fehlende Bindungen zum Herkunftsstaat zu berücksichtigen haben (vgl. in diesem Sinne Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C-371/08, EU:C:2011:809, Rn. 79 und 80).

72 So hat der Gerichtshof entschieden, dass Maßnahmen, die aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder der öffentlichen Sicherheit gerechtfertigt sind, nur getroffen werden können, wenn sich nach einer Einzelfallprüfung durch die zuständigen nationalen Behörden, bei der sowohl der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit als auch die Grundrechte des Betroffenen, insbesondere das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, gewahrt werden, herausstellt, dass das individuelle Verhalten der betroffenen Person eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Grundinteresse der Gesellschaft darstellt (Urteil vom 8. Dezember 2011, Ziebell, C-371/08, EU:C:2011:809, Rn. 82). [...]

74 In Anbetracht dieser Gesichtspunkte ist davon auszugehen, dass im vorliegenden Fall die Verschärfung der gleitenden Skala, die die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme zur Wahrung der öffentlichen Ordnung vorsieht, in den in Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 gewährten Wertungsspielraum der zuständigen niederländischen Behörden fällt. Darüber hinaus können der Verweis auf die geänderten gesellschaftlichen Anschauungen, die zu dieser neuen Beschränkung geführt haben, und der Umstand, dass diese neue Beschränkung dem Ziel der öffentlichen Ordnung dient, zu ihrer Rechtfertigung beitragen.

75 Allerdings reichen der Verweis auf die geänderten gesellschaftlichen Anschauungen und die auf die öffentliche Ordnung gestützte Rechtfertigung allein nicht aus, um die im Ausgangsverfahren in Rede stehende nationale Maßnahme, die gemäß Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 getroffen wurde, zu rechtfertigen. [...]

77 Folglich ist auf die zweite und die dritte Frage zu antworten, dass Art. 14 Abs. 1 des Beschlusses Nr. 1/80 dahin auszulegen ist, dass sich türkische Staatsangehörige, die nach Ansicht der zuständigen nationalen Behörden des betreffenden Mitgliedstaats eine gegenwärtige, tatsächliche und hinreichend schwere Gefahr für ein Interesse der Gesellschaft darstellen, auf Art. 13 dieses Beschlusses berufen können, um sich gegen die Anwendung einer "neuen Beschränkung" im Sinne dieser Bestimmung zu wehren, nach der diese Behörden ihr Aufenthaltsrecht aus Gründen der öffentlichen Ordnung beenden können. Eine solche Beschränkung kann nach Art. 14 des Beschlusses gerechtfertigt sein, sofern sie geeignet ist, die Verwirklichung des verfolgten Ziels des Schutzes der öffentlichen Ordnung zu gewährleisten, und nicht über das zu dessen Erreichung Erforderliche hinausgeht. [...]