OVG Sachsen-Anhalt

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Zitieren als:
OVG Sachsen-Anhalt, Beschluss vom 19.09.2022 - 2 M 56/22 - asyl.net: M31547
https://www.asyl.net/rsdb/m31547
Leitsatz:

Ausstellung einer Fiktionsbescheinigung nach dem FreizügG/EU

"1. § 11 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU [wonach nach § 81 Abs. 5 AufenthG eine Fiktionsbescheinigung auszustellen ist] will diejenigen Fälle erfassen, in denen bereits feststeht, dass die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltskarte vorliegen, die Aufenthaltskarte aber aus verfahrenstechnischen Gründen noch nicht ausgestellt werden kann (Rn. 13).

2. Sie betrifft hingegen nicht diejenigen Fälle, in denen ein Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte fraglich ist (Rn. 13).

3. Für ein nachhaltiges Gebrauchmachen vom Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV im Sinne von § 1 Abs. 1 Nr. 6 FreizügG/EU und § 12a FreizügG/EU genügt es nicht, wenn der deutsche Staatsangehörige und seine Ehefrau, die Drittstaatsangehörige ist, nur wenige Tage gemeinsam im Aufnahmestaat verbracht haben (Rn. 24)

4. Für das nachhaltige Gebrauchmachen vom Freizügigkeitsrecht sind Aufenthaltszeiten eines Deutschen und seiner Ehefrau in Großbritannien ab dem 1. Januar 2021 unbeachtlich (Rn. 25)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: freizügigkeitsberechtigt, drittstaatsangehöriger Ehegatte, Freizügigkeitsbescheinigung, Aufenthaltskarte, Fiktionsbescheinigung, Fiktionswirkung, Brexit
Normen: FreizügG/EU § 11 Abs. 4 S. 1, AufenthG § 81 Abs. 5, AEUV Art. 21, FreizügG/EU § 1 Abs. 1 Nr. 6, FreizügG/EU § 12a, Art. 13 Abs. 1 BrexitAbk
Auszüge:

[...]

9 A. Die Beschwerde der Antragstellerin hat keinen Erfolg. [...]

11 a) Nach § 11 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU in der seit dem 24. November 2020 geltenden Fassung vom 12. November 2020 (BGBl I S. 2416) ist eine Fiktionsbescheinigung nach § 81 Abs. 5 AufenthG auf Antrag auszustellen, wenn nach diesem Gesetz von Amts wegen eine Aufenthaltskarte, ein Aufenthaltsdokument-GB oder ein Aufenthaltsdokument für Grenzgänger-GB auszustellen ist und ein Dokument mit elektronischem Speicher- und Verarbeitungsmedium noch nicht zur Überlassung an den Inhaber bereitsteht. Nach § 11 Abs. 4 Satz 2 FreizügG/EU findet in Fällen, in denen ein Recht auf Einreise und Aufenthalt nach diesem Gesetz nur auf Antrag besteht, § 81 AufenthG entsprechende Anwendung. [...]

13 § 11 Abs. 4 Satz 1 FreizügG/EU will mithin diejenigen Fälle erfassen, in denen bereits feststeht, dass die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltskarte vorliegen, die Aufenthaltskarte aber aus verfahrenstechnischen Gründen noch nicht ausgestellt werden kann. Sie betrifft hingegen nicht diejenigen Fälle, in denen - wie hier – ein Anspruch auf Ausstellung einer Aufenthaltskarte fraglich ist.

14 b) Im Gegensatz dazu wird eine Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU, wie sie die Antragstellerin im Verwaltungsverfahren u.a. begehrt hat, ohne Rücksicht darauf ausgestellt, ob die materiellen Voraussetzungen für die Erteilung einer Aufenthaltskarte vorliegen. [...]

16 Eine Bescheinigung nach § 5 Abs. 1 Satz 2 FreizügG/EU oder nach Art. 10 Abs. 1 Satz 2 der Richtlinie 2004/38/EG ist aber nicht Gegenstand des einstweiligen Rechtsschutzantrages der Antragstellerin.

17 2. Die Antragstellerin macht geltend, entgegen der Einschätzung des Verwaltungsgerichts habe ihr Ehemann von dem ihm zustehenden Recht auf Freizügigkeit nach Art. 21 AEUV nachhaltig Gebrauch gemacht. Hierzu reichten bereits die Begründung des Wohnsitzes, die zielgerichteten Anstrengungen zur Arbeitsplatzsuche im Vereinigten Königreich wie auch der Arbeitsantritt bei einem Unternehmen in Manchester ab dem 1. Dezember 2020 aus; es handele sich dabei allesamt um Tätigkeiten, die vor dem 31. Dezember 2020 erfolgt seien. Auch die Erteilung der entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Dokumente für sie und ihren Ehemann durch die britischen Behörden sprächen dafür. Der Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass es für ein nachhaltiges Gebrauchmachen des Freizügigkeitsrechts auf eine bestimmte längerfristige Verweildauer bzw. einen bestimmten längerfristigen Zeitraum ankomme, stehe die Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 12. März 2014 - C-456/12) entgegen. Damit vermag die Antragstellerin ebenfalls nicht durchzudringen. [...]

22 Gemessen daran ist die Vorinstanz zu Recht davon ausgegangen, dass der Ehemann der Antragstellerin von seinem Recht auf Freizügigkeit nicht nachhaltig Gebrauch gemacht hat. [...]

24 Für ein nachhaltiges Gebrauchmachen vom Freizügigkeitsrecht genügt es aber entgegen der Auffassung der Antragstellerin nicht, dass ihr Ehemann in Großbritannien im November 2020 einen Wohnsitz begründet, dort Anstrengungen zur Arbeitsplatzsuche unternommen, im Dezember 2020 eine Arbeit aufgenommen und die entsprechenden aufenthaltsrechtlichen Dokumente erhalten hat. Vielmehr kommt es maßgeblich auch darauf an, ob sich bei dem auf der Grundlage des Art. 7 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EU begründeten, eine "gewisse Zeit" andauernden Aufenthalt in Großbritannien auf der Grundlage und unter Beachtung von Art. 7 Abs. 1 und 2 der Richtlinie 2004/38 ein Familienleben entwickelt oder gefestigt hat. Das Zusammenleben im Aufnahmestaat für zehn Tage - wie hier - reicht dafür nicht aus.

25 3. Zutreffend ist das Verwaltungsgericht auch davon ausgegangen, dass für das nachhaltige Gebrauchmachen vom Freizügigkeitsrecht die Aufenthaltszeiten der Antragstellerin und ihres Ehemannes in Großbritannien ab dem 1. Januar 2021 bis zur Ausreise am 16. August 2021 unbeachtlich sind. Entgegen der Rechtsauffassung der Antragstellerin gilt ein vor dem 1. Januar 2021 bestehendes Freizügigkeitsrecht eines Unionsbürgers nach dem FreizügG/EU nach dem Ablauf des in Art. 126 BrexitAbk genannten Übergangszeitraums nicht fort. Zwar bestimmt Art. 13 Abs. 1 BrexitAbk, auf den sich die Antragstellerin im Zusammenhang mit ihren Angriffen gegen den vom Verwaltungsgericht angenommenen fehlenden unionsrechtlichen Bezug der Rückreise aus Großbritannien u.a. beruft, dass Unionsbürger und britische Staatsangehörige das Recht haben, sich mit den Beschränkungen und unter den Bedingungen, die in Art. 21, 45 oder 49 AEUV sowie in Art. 6 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1 Buchstabe a, b oder c, Art. 7 Abs. 3, Art. 14, Art. 16 Abs.1 oder Art. 17 Abs. 1 der Richtlinie 2004/38/EG vorgesehen sind, im Aufnahmestaat aufzuhalten. Der Senat geht zugunsten der Antragstellerin davon aus, dass ihr Ehemann in der Zeit vom 1. Januar 2021 bis zur Ausreise im August 2021 über ein solches Aufenthaltsrecht verfügte, auch wenn er bereits nach britischem Recht ein (nationales) Aufenthaltsrecht in Gestalt des "Pre-Settled Status" hatte. [...]