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OVG Bremen

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Zitieren als:
OVG Bremen, Beschluss vom 24.01.2023 - 1 LA 200/21 - asyl.net: M31543
https://www.asyl.net/rsdb/m31543
Leitsatz:

Kein Flüchtlingsschutz für Frauen aus Eritrea trotz geschlechtsspezifischer Gewalt im Nationaldienst:

"1. Nach der derzeit einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung knüpfen weder die Einberufung zum Nationaldienst in Eritrea noch eine Bestrafung oder andere drohende Maßnahmen wegen Entziehung vom Nationaldienst an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal an (Rn. 14).

2. Nach der bestehenden Erkenntnislage besteht eine beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass Frauen im militärischen Teil des Nationaldienstes von sexuellen Übergriffen betroffen sind. Vor diesem Hintergrund kommt zwar subsidiärer Schutz, nach obergerichtlicher Rechtsprechung aber nicht die Zuerkennung von Flüchtlingsschutz in Betracht, weil Frauen im Nationaldienst keine bestimmte soziale Gruppe im Sinne von § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG [...] bilden (Rn. 20) (Rn. 21)."

(Amtliche Leitsätze; anderer Ansicht zur Frage der sozialen Gruppe bei geschlechtsspezifischer Verfolgung: VG Berlin, Urteil vom 17.08.2022 - 31 K 305/20 A (Asylmagazin 3/2023, S. 70 ff.) - asyl.net: M31230)

Siehe auch:

  • Lena Ronte: Zum Begriff der frauenspezifischen Verfolgung in der aktuellen Rechtsprechung, Asylmagazin 4/2023, S. 89
Schlagwörter: Eritrea, Nationaldienst, Militärdienst, Frauen, Asylrelevanz, Aufstockungsklage, Upgrade-Klage, Berufungszulassungsantrag, geschlechtsspezifische Verfolgung, Wehrdienstentziehung, sexuelle Gewalt, soziale Gruppe,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4,
Auszüge:

[...]

14 a) Nach der derzeit einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung knüpfen weder die Einberufung zum Nationaldienst in Eritrea noch eine Bestrafung oder andere drohende Maßnahmen wegen Entziehung vom Nationaldienst an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1, § 3b AsylG an [...]. Gegen eine Anknüpfung an ein flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal wird in erster Linie angeführt, dass sich die Verpflichtung zur Ableistung des Nationaldienstes in Eritrea nach der Rechtslage und Anwendungspraxis im Wesentlichen auf alle eritreischen Staatsangehörigen ohne Unterscheidung nach flüchtlingsschutzerheblichen individuellen Persönlichkeitsmerkmalen erstrecke. [...]

15 b) Dieser Rechtsprechung hat sich das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung unter Auswertung der aktuellen Erkenntnisse angeschlossen. Die hiergegen von der Klägerin im Einzelnen erhobenen Einwände rechtfertigen die Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung nicht.

16 aa) Soweit die Klägerin zur Begründung der Klärungsbedürftigkeit der aufgeworfenen Fragen auf einen Zulassungsbeschluss des OVG Berlin-Brandenburg vom 26.03.2021 (OVG 4 N 8/20) verweist, hat sich das Gericht zwischenzeitlich der obergerichtlichen Rechtsprechung angeschlossen und eine Flüchtlingszuerkennung wegen einer Entziehung oder Desertion vom Nationaldienst und illegaler Ausreise im dienstpflichtigen Alter ebenfalls mit der Begründung abgelehnt, dass die drohende Inhaftierung und anschließende Heranziehung zum Nationaldienst nicht an eine dem Dienstpflichtigen zugeschriebene politische Überzeugung oder ein anderes flüchtlingsschutzrelevantes Merkmal anknüpften (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 29.09.2022 - OVG 4 B 14/21, juris Rn. 25; zuvor bereits Urt. v. 17.11.2021 - OVG 4 B 17/21, juris Rn. 25). [...]

19 dd) Eine Zulassung der Berufung wegen grundsätzlicher Bedeutung kommt auch nicht deshalb in Betracht, weil die Klägerin unter Bezugnahme auf ein Urteil des VG Düsseldorf vom 09.17.2017 (6 K 13718/16.A) und eine Auskunft des Auswärtigen Amtes vom 09.03.2020 in einem Verfahren des VG Frankfurt (Oder) mit dem Aktenzeichen 5 K 1779/15.A den Einwand erhebt, dass sich die Verhältnisse in Eritrea weiterhin als "Black-Box" darstellten. Selbst wenn diese Sichtweise zutreffend und keine abschließende Beurteilung der Flüchtlingsschutzrelevanz der Bestrafung einer Nationaldienstentziehung und einer anschießenden Einberufung zum Nationaldienst anhand der vorliegenden Erkenntnisse möglich wäre, würde dies nicht zu einer Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes führen, weil es auch bei einer solchen Sachlage an einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit für eine politische Verfolgung fehlen würde. [...]

20 ee) Schließlich kommt der Sache auch mit Blick auf eine geschlechtsspezifische Verfolgung der Klägerin im Falle ihrer Rückkehr keine grundsätzliche Bedeutung zu. Insoweit fehlt es bereits an der Formulierung einer Frage, die von der Klägerin in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht für klärungsbedürftig gehalten wird. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht der Klägerin subsidiären Schutz zugesprochen, weil es davon ausgeht, dass die Klägerin im Falle ihrer Rückkehr als Rekrutin im militärischen Teil des Nationaldienstes mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Opfer von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung im Sinne von § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG werde. Bereits die Arbeitsbedingungen als solche stellten aufgrund der unbefristeten Dauer sowie der Versorgungssituation in ihrer Gesamtschau eine unmenschliche Behandlung dar. Besonders dramatisch stelle sich aber die Situation für weibliche Rekrutinnen dar. Diesen drohe im militärischen Teil des Nationaldienstes sexuelle Nötigung und Vergewaltigung. Die Zuerkennung des Flüchtlingsschutzes hat das Verwaltungsgericht gleichwohl abgelehnt, weil die Verfolgungshandlung nicht an einen Verfolgungsgrund im Sinne des § 3 Abs. 1 i.V.m § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG anknüpfe.

21 Auch diese rechtliche Bewertung entspricht der einhelligen Auffassung in der obergerichtlichen Rechtsprechung. Frauen im Nationaldienst stellen danach keine soziale Gruppe im Sinne dieser Vorschrift dar. Eine soziale Gruppe liegt nicht vor, wenn die betroffene Gruppe nicht in dem Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat bzw. nicht von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird [...]. Diese Voraussetzung wird in der obergerichtlichen Rechtsprechung für Frauen im eritreischen Nationaldienst allgemein verneint. Eine abgegrenzte Identität liege schon deshalb nicht vor, weil die Pflicht zur Ableistung des Nationaldienstes nahezu sämtliche eritreischen Staatsbürgerinnen und Staatsbürger ohne Ansehung bestimmter Persönlichkeitsmerkmale treffe. Frauen würden im Nationaldienst Opfer sexueller Übergriffe ausgesetzt, weil der Nationaldienst solche Übergriffe ermögliche und zulasse, nicht weil sie von der eritreischen Gesellschaft als andersartig betrachtet würden und deshalb eine deutlich abgegrenzte Identität besäßen [...].