VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 20.02.2023 - 19 CE 22.2220 (Asylmagazin 9/2023, S. 326 ff.) - asyl.net: M31540
https://www.asyl.net/rsdb/m31540
Leitsatz:

Notwendige Maßnahmen zur Abschiebung schwerkranker Menschen:

1. Wenn die notwendigen Maßnahmen zur Abwendung einer durch den Abschiebungsvorgang verursachten Suizidgefahr ergriffen werden, besteht keine konkrete Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand der Person (hier: posttraumatischen Belastungsstörung sowie eine rezidivierend depressive Störung, gegenwärtig schwere Episode mit hohem Suizidrisiko) durch die Abschiebung wesentlich oder lebensbedrohlich verschlechtern würde.

2. Diese notwendigen Maßnahmen sind im Einzelfall die Sicherstellung einer Sicherheitsbegleitung und einer ärztlichen Begleitung während des gesamten Abschiebevorgangs, die Sicherstellung einer Übergabe der Person im Herkunftsland an eine*n vorab über die Krankheitsgeschichte informierte*n Ärzt*in, die frühzeitige Unterrichtung des in Lagos befindlichen Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba über eine ggf. erforderliche Behandlung der Person sowie die Mitgabe der notwendigen Medikation für einen Zeitraum von einem Monat.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Abschiebung, Suizidgefahr, Reiseunfähigkeit, inlandsbezogenes Abschiebungshindernis, krankheitsbedingtes Abschiebungsverbot, psychische Erkrankung, Posttraumatische Belastungsstörung, Attest,
Normen: AufenthG § 60a Abs. 2c,
Auszüge:

[...]

8 Ein Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung wegen rechtlicher Unmöglichkeit der Abschiebung gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist u.a. dann gegeben, wenn die konkrete Gefahr besteht, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Abschiebung wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, und wenn diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden kann. Diese Voraussetzungen können nicht nur erfüllt sein, wenn und solange der Ausländer ohne Gefährdung seiner Gesundheit nicht transportfähig ist (Reiseunfähigkeit im engeren Sinn), sondern auch, wenn die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – eine erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr für den Ausländer bewirkt (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinn; vgl. BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 732/14 – juris Rn. 13). In Betracht kommen damit nur inlandsbezogene Abschiebungsverbote.

9 Das dabei in den Blick zu nehmende Geschehen beginnt regelmäßig bereits mit der Mitteilung einer beabsichtigten Abschiebung gegenüber dem Ausländer. Besondere Bedeutung kommt sodann denjenigen Verfahrensabschnitten zu, in denen der Ausländer dem tatsächlichen Zugriff und damit auch der Obhut staatlicher deutscher Stellen unterliegt. Hierzu gehören das Aufsuchen und Abholen in der Wohnung, das Verbringen zum Abschiebeort sowie eine etwaige Abschiebungshaft ebenso wie der Zeitraum nach Ankunft am Zielort bis zur Übergabe des Ausländers an die Behörden des Zielstaats. In dem genannten Zeitraum haben die zuständigen deutschen Behörden von Amts wegen in jedem Stadium der Abschiebung etwaige Gesundheitsgefahren zu beachten. Diese Gefahren müssen sie entweder durch ein (vorübergehendes) Absehen von der Abschiebung mittels einer Duldung oder aber durch eine entsprechende tatsächliche Gestaltung des Vollstreckungsverfahrens mittels der notwendigen Vorkehrungen abwehren (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 13).

10 Selbst bei Annahme einer – wie hier – nicht völlig auszuschließenden Suizidgefahr liegt nicht zwangsläufig ein krankheitsbedingtes Abschiebungshindernis vor; vielmehr handelt es sich bei einer behaupteten Reiseunfähigkeit und einer möglicherweise aus den besonderen Belastungen einer Abschiebung resultierenden Suizidgefahr um eine Abschiebung regelmäßig nur vorübergehend hindernde Umstände (BVerfG, B.v. 26.2.1998 – 2 BvR 185/98 – juris Rn. 3). Die Abschiebung ist von der Ausländerbehörde dann so zu gestalten, dass einer Suizidgefahr wirksam begegnet werden kann (BVerfG, B.v. 16.4.2002 – 2 BvR 553/02 – juris; BayVGH, B.v. 23.8.2016 – 10 CE 15.2784 – juris Rn. 16). Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 14) kann es in Einzelfällen geboten sein, dass die deutschen Behörden mit den im Zielstaat zuständigen Behörden Kontakt aufnehmen, um gegebenenfalls zum Schutz des Ausländers Vorkehrungen zu treffen. Insbesondere besteht eine Verpflichtung der mit dem Vollzug betrauten Stelle, von Amts wegen aus dem Gesundheitszustand eines Ausländers folgende Gefährdungen in jedem Stadium der Durchführung der Abschiebung zu beachten und durch entsprechende tatsächliche Gestaltung der Abschiebung die notwendigen präventiven Vorkehrungen zu treffen (BVerfG, B.v. 17.9.2014 – 2 BvR 939/14 – juris Rn. 13; BayVGH, B.v. 9.5.2017 – 10 CE 17.750). [...]

18 Unabhängig von der Frage, ob die vorgelegten ärztlichen Stellungnahmen die Anforderungen, die § 60a Abs. 2c AufenthG an eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung stellt, erfüllen, vermag der Senat – selbst unter Annahme einer qualifizierten ärztlichen Bescheinigung – der verwaltungsgerichtlichen Auffassung, es liege jedenfalls eine die Abschiebung als solche – außerhalb des Transportvorgangs – hindernde erhebliche konkrete Gesundheitsgefahr (Reiseunfähigkeit im weiteren Sinne) vor, weil die fachärztlich festgestellte Erkrankung sich durch die Abschiebung mit hoher Wahrscheinlichkeit wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtern würde (Suizidgefahr) und diese Gefahr nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden könnte, nicht zu folgen. Der Senat vermag insoweit jedenfalls nicht zu erkennen, dass die in den ärztlichen Stellungnahmen geschilderte Gefahr, "im Falle eines Abbruchs der Behandlung" sei "mit einer gravierenden Verschlechterung des Gesundheitszustandes zu rechnen" und im konkreten Fall sei "mit Sicherheit davon auszugehen, dass es unverzüglich [im Fall eines Behandlungsabbruchs] zu einer psychischen Dekompensation mit Suizid kommen wird" (vgl. die fachärztliche Stellungnahme vom … 2022), nicht durch bestimmte Vorkehrungen ausgeschlossen oder gemindert werden könnte. [...]

19 Eine konkrete Gefahr, dass sich der Gesundheitszustand des Ausländers durch die Rückführung (bis zur Übergabe an die Behörden des Zielstaats) wesentlich oder gar lebensbedrohlich verschlechtert, vermag der Senat jedenfalls unter der Berücksichtigung der von ihm im Tenor ausgesprochenen Maßgaben (Sicherheitsbegleitung und ärztliche Begleitung während des Abschiebungsvorgangs; Übergabe im Herkunftsland an einen – vorab über den Antragsteller informierten – Arzt; Ausstattung des Antragstellers mit der für ihn notwendigen Medikation für einen Zeitraum von einem Monat) nicht zu erkennen. Die ärztlichen Stellungnahmen setzen sich mit möglichen Sicherheitsvorkehrungen zur Vermeidung von Gesundheitsgefahren im Rahmen des Abschiebungsvorgangs nicht auseinander. Die Verweise auf Gesundheitsgefahren im Zusammenhang mit einer Aufenthaltsbeendigung und einem Behandlungsabbruch zielen inhaltlich erkennbar auf die langfristigen Behandlungsmöglichkeiten im Herkunftsland (so sind auch die Ausführungen der Prozessbevollmächtigten des Antragstellers im Schriftsatz vom 25.11.2022 zu verstehen: "Das Attest führt eindeutig auf, weshalb eine Behandlung in Nigeria nicht möglich ist, da es an einem stabilen psychosozialen Umfeld und der Möglichkeit einer Langzeit-Psychotherapie im Herkunftsland fehle. Das verordnete Medikament Valdoxan, ist in Nigeria nicht verfügbar, da es nur in Europa und den USA erhältlich ist. Es wird eindeutig auf die Folgen des Abbruchs der Behandlung hingewiesen. Diese gerade auch langfristigen Folgen würden zudem auch nicht durch eine vorübergehende ärztliche Begleitung beim Flug zureichend begegnet werden."), verfehlen aber die streitgegenständliche Frage eines inländischen Abschiebungshindernisses wegen Reiseunfähigkeit des Antragstellers.

20 Der Senat ist der Auffassung, dass durch die angeordnete Sicherheitsbegleitung und ärztliche Begleitung während des Abschiebevorgangs eine Suizidgefahr bis zum – im vorliegenden Verfahren maßgeblichen – Zeitpunkt der Übergabe des Antragstellers an die Behörden des Herkunftslandes (in dem die deutschen Behörden die Einwirkungsmöglichkeit auf den Antragsteller verlieren) wirksam ausgeschlossen werden kann. Zudem wird durch die Maßgabe, den Antragsteller im Herkunftsland nur an einen – vorab informierten – Arzt zu übergeben, sichergestellt, dass eine Suizidgefahr unmittelbar nach der Ankunft im Herkunftsland ausgeschlossen und eine Begutachtung und unmittelbare Behandlung des Antragstellers erfolgt. Angesichts des nur summarischen Charakters des vorliegenden Verfahrens hält der Senat zudem die im Tenor ausgesprochene Maßgabe, den Antragsteller mit der für ihn erforderlichen Medikation für einen Mindestzeitraum von einem Monat auszustatten, für erforderlich. Der Übergangszeitraum von einem Monat wird für ausreichend erachtet, den Anschluss einer möglicherweise erforderlichen (ambulanten) Weiterbehandlung des Antragstellers im Heimatland zu gewährleisten (soweit nicht der den Antragsteller in Empfang nehmende Arzt – möglicherweise um einer Suizidgefahr wirksam zu begegnen – eine – grundsätzlich im Herkunftsland mögliche <vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Nigeria vom 24.11.2022, Stand Oktober 2022 S. 19 f.> – stationäre Behandlung für erforderlich hält, weshalb eine frühzeitige Vorabinformation des in Lagos befindlichen Federal Neuro Psychiatric Hospital Yaba über eine ggf. erforderliche Behandlung des Antragstellers und dessen Ankunft im Herkunftsland für erforderlich gehalten wird).

21 Werden die angeordneten Maßnahmen ergriffen, bestehen für den Senat keine Anhaltspunkte (insbesondere nicht aus den vorgelegten ärztlichen Attesten) dafür, dass einer (möglicherweise bestehenden) Gefahr einer Selbstschädigung während des Abschiebevorgangs nicht wirksam begegnet werden kann. Daher ist unter diesen Voraussetzungen auch nicht von einem inlandsbezogenen Abschiebungshindernis auszugehen (mangels anderer geltend gemachter Duldungsgründe liegen somit auch die Voraussetzungen des § 25a AufenthG nicht vor). [...]