VG Ansbach

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Zitieren als:
VG Ansbach, Beschluss vom 20.02.2023 - AN 14 S 22.50084 - asyl.net: M31539
https://www.asyl.net/rsdb/m31539
Leitsatz:

Anspruch auf Selbsteintritt bei drohender Trennung zweier Geschwister:

1. Das Selbsteintrittsrecht des Art. 17 Dublin-III-VO dient auch dazu, Familienmitglieder zusammenzuführen, die nach den Kriterien der Dublin-III-VO (wie Art. 8, Art. 10, Art. 16 Dublin III-VO) getrennt werden würden. Unerheblich ist insofern, ob das Verwandtschaftsverhältnis von der Definition der Familienangehörigen gemäß Art. 2 Bst. g Dublin III-VO erfasst ist.

2. Für einen Anspruch auf Selbsteintritt der volljährigen Klägerin aus Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK spricht, dass sie mit ihrer jetzt zwölfjährigen Schwester im Heimatland zusammengelebt hat, dass sie gemeinsam mit den Eltern die Flucht angetreten haben und - nachdem sie von ihren Eltern getrennt wurden - zu zweit ihre Flucht fortgesetzt haben. Ferner leben sie auch jetzt zusammen. Insbesondere können von Art. 6 Abs. 1 GG, Art. 8 EMRK geschützte Familienbindungen auch zwischen anderen Personen als zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern bestehen, beispielsweise zwischen Enkeln und Großeltern oder auch zwischen engen Verwandten in der Seitenlinie, wie hier zwischen Geschwistern.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Geschwister, Volljährigkeit, minderjährig, Schwester, Bruder, unbegleitete Minderjährige,
Normen: VO 604/2013 Art. 17 Abs. 1, VO 604/2013 Art. 2 Bst. g, GG Art. 6 Abs. 1, EMRK Art. 8, GR-Charta Art. 7
Auszüge:

[...]

28 Sofern die Nichtausübung des Selbsteintrittsrechts zu einer Verletzung der Grundrechtecharte bzw. der EMRK führt und nur die Ausübung des Selbsteintritts diese verhindern kann, ist ein subjektives Recht auf Ausübung des Selbsteintritts zu bejahen (vgl. VG Berlin, U.v. 4.11.2021 – 34 K 519.18 A – juris Rn. 22 f. m.w.N.). [...]

29 Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall gegeben. Die Antragstellerin und ihre minderjährige Schwester sind Teil der gleichen Kernfamilie. Hierfür sprechen zahlreiche, von beiden Schwestern in ihren Anhörungen übereinstimmend geschilderten Umstände, u.a., dass sie im Heimatland gemeinsam mit ihren Eltern zusammenlebten, dass sie gemeinsam die Flucht antraten, und dass sie, nachdem sie in der Türkei von ihren Eltern getrennt wurden, zu zweit ihre Flucht fortgesetzt haben. [...]

30 Es gibt demgegenüber keinerlei Anhaltspunkte, die dagegen sprechen würden, dass der Familienverband zwischen der minderjährigen, erst zwölfjährigen Schwester und der Antragstellerin (und wohl auch dem Bruder), die zusammenleben, auch tatsächlich besteht. Intensive Familienbindungen können zweifellos auch zwischen anderen Personen als zwischen minderjährigen Kindern und ihren Eltern bestehen,  beispielsweise in der Großfamilie zwischen Enkeln und Großeltern oder auch zwischen engen Verwandten in der Seitenlinie (vgl. BVerfG, B.v. 24.6.2014 – 1 BvR 2926/13 – juris 1.Ls. und Rn. 23 zum Schutzbereich des Art. 6 Abs. 1 GG), wie hier zwischen Geschwistern. Es gibt auch keinen Grund, an den übereinstimmenden Angaben der Schwestern zur Fluchtgeschichte und dem Zusammenleben im Irak zu zweifeln.

31 Die Argumentation des Bundesamts im streitgegenständlichen Bescheid, die persönliche Bindung der Antragstellerin zu ihrer mitgereisten minderjährigen Schwester könne nicht als außergewöhnlicher humanitärer Grund für einen Selbsteintritt nach Art. 17 Abs. 1 Dublin-III-VO Berücksichtigung finden, weil dieses Verwandtschaftsverhältnis nicht von Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO gedeckt sei, verkennt den Sinn und Zweck der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO. Dieser besteht gerade darin, Familienmitglieder zusammenzuführen, die nach den Kriterien der Dublin-III-VO (wie Art. 8 bis Art. 10 der Dublin-III-VO) sonst getrennt würden (vgl. VG Ansbach, B.v. 3.1.2023 – AN 17 E 22.50448 – juris Rn. 48 m.w.N.). Hierfür spricht auch der Wortlaut der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO, der den in Art. 2 Buchst. g Dublin-III-VO definierten Begriff des "Familienangehörigen" gerade nicht verwendet. Darüber hinaus dürfte der Anwendungsbereich der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO, wenn diese nur für Familienangehörige i.S.d. Dublin-III-VO greifen würden, neben Art. 8 bis Art. 10 Dublin-III-VO äußerst gering sein. Es ist daher nicht nachvollziehbar, weshalb mit der Ansicht des Bundesamts der Anwendungsbereich der Art. 16 und Art. 17 Dublin-III-VO derart begrenzt sein sollte. [...]