Kein Abschiebungsverbot für palästinensische Person jordanischer Staatsangehörigkeit nach Aufenthalt in Syrien:
"1. Nach der Erkenntnislage gibt es keine über Einzelfälle hinausgehende Praxis der jordanischen Behörden, Palästinensern, die dauerhaft oder überwiegend in Syrien gelebt haben, die jordanische Staatsangehörigkeit zu entziehen (Rn. 30) (Rn. 43) (Rn. 47).
2. Es ist davon auszugehen, dass es einem 49-jährigen jordanischen Staatsangehörigen, der zuvor in Syrien gelebt hatte, dort selbständig als Maler und Elektriker tätig war und nicht unter gesundheitlichen Beeinträchtigungen leidet, gelingen wird, in Jordanien eine Arbeitstätigkeit auszuüben und damit ein Einkommen zu erzielen, das es ihm ermöglicht, den existenziellen Lebensunterhalt zu sichern (Rn. 59)."
(Amtliche Leitsätze)
[...]
25 Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG sind in dem für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung vor dem Senat (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) nicht erfüllt. [...]
30 2. Nach der Auskunftslage ist die rechtliche Situation palästinensischer Volkszugehöriger in Jordanien im Hinblick auf Staatsangehörigkeit, Aufenthaltsstatus und Einreisemöglichkeiten wie folgt zu beurteilen:
31 a) Nach Auskunft des Auswärtigen Amts können jordanische Staatsangehörige grundsätzlich nach Jordanien einreisen und zurückkehren (Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 4. August 2021). Auf die Frage, ob ein jordanischer Staatsangehöriger, der immer nur in Syrien lebte und Palästinenser ist, mit Einschränkungen und Nachteilen im Falle seiner Rückkehr zu rechnen habe, führt das Auswärtige Amt aus, dass für die jordanischen Behörden der Besitz der jordanischen Staatsangehörigkeit entscheidend sei. Es sei nicht bekannt, dass ein überwiegender Wohnort in Syrien bzw. palästinensische Herkunft allein einen Nachteil darstellen könnten, es sei denn, die betreffende Person stelle nach Ansicht der jordanischen Behörden aufgrund von Kontakten zu Konfliktparteien in Syrien ein Sicherheitsrisiko dar (Auskunft an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge vom 17. Mai 2017). [...]
43 3. Die allgemeine Situation von Palästinensern in Jordanien wird wie folgt beschrieben:
44 Nach Auskunft des Auswärtigen Amts (vom 17. Mai 2017) hätten ca. 50 % der Einwohner Jordaniens palästinensische Wurzeln. [...]
46 Laut BFA (a.a.O., S. 24 f.) sind die meisten palästinensischen Flüchtlinge im Besitz der vollen jordanischen Staatsangehörigkeit. Auch langjährigen palästinensischen Flüchtlingen aus dem Gaza-Streifen und ohne jordanische Staatsangehörigkeit werde jedoch weiterhin die Arbeitssuche und andere grundlegende Rechte verwehrt [...].
47 4. Aufgrund dieser Erkenntnislage sind die Lebensumstände für den Kläger im Falle seiner Einreise nach Jordanien wie folgt zu beurteilen:
48 a) Unzweifelhaft hatte der Kläger jedenfalls noch in der Zeit seiner Ausreise aus Syrien die jordanische Staatsangehörigkeit. Es kann dahinstehen, auf welcher Grundlage er bzw. einer seiner Vorfahren als palästinensischer Volkszugehöriger die jordanische Staatsangehörigkeit erhalten hat; auch der Kläger hat hierzu in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat keine Angaben machen können. Jedenfalls hat der Kläger einen jordanischen Reisepass mit einer Identitätsnummer vorgelegt, der am 4. März 2012 ausgestellt wurde und bis zum 3. März 2017 gültig war. Dabei handelt es sich nicht um einen zeitweiligen Reisepass ohne Identifikationsnummer, deren Inhaber - wie oben ausgeführt - nicht als jordanische Staatsangehörige angesehen werden, sondern um einen fünf Jahre gültigen Reisepass, der die vollwertige jordanische Staatsangehörigkeit dokumentiert. [...]
49 b) Wie oben ausgeführt, sind jedenfalls einige Fälle von jordanischen Palästinensern aus Syrien dokumentiert, denen ihre jordanische Staatsangehörigkeit entzogen wurde und die nach Syrien zurückgeschickt worden seien. Dabei gehörte der Kläger offensichtlich nicht zu der Gruppe von Palästinensern, die seit Mitte 2012 faktisch an der Einreise aus Syrien gehindert wurden und gegen die im Januar 2013 ein offizielles Einreiseverbot verhängt wurde. Denn der Kläger, dem zuletzt im März 2012 ein jordanischer Reisepass ausgestellt wurde, konnte noch in der ersten Jahreshälfte 2015 von Katar aus auf dem Luftweg nach Jordanien einreisen. Es gab, wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat berichtet hat, nach seiner Einreise zwar eine Befragung durch jordanische Sicherheitskräfte, jedoch wurde ihm die Einreise nicht verweigert. Anschließend hat er sich für etwa einen Monat bei seinem seinerzeit in Jordanien lebenden Bruder aufgehalten und ist dann weitergereist.
50 c) Nach der Auskunftslage ist allerdings davon auszugehen, dass es Fälle gegeben hat, in denen palästinensischen jordanischen Staatsangehörigen die Einreise jedenfalls von Syrien aus verweigert wurde. Es sind - wie ausgeführt - auch Fälle dokumentiert, in denen die Staatsangehörigkeit nicht im Zusammenhang mit der Einreise oder durch offizielle Nachricht, sondern im Rahmen von Behördengängen entzogen wurde. Die Anzahl der von solchen Maßnahmen Betroffenen ist nach der Auskunftslage jedoch verhältnismäßig gering. Wie ausgeführt, liegen UNWRA Kenntnisse von 50 Fällen von Entziehungen der jordanischen Staatsangehörigkeit seit 2011 vor. [...]
51 d) Es ist nicht eindeutig zu beurteilen, ob von der Entziehung der Staatsangehörigkeit und Abschiebung nach Syrien bestimmte Gruppen von Palästinensern in besonderer Weise betroffen sind oder ob es sich um eine willkürliche Praxis handelt. [...]
52 Es gibt auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger - etwa aufgrund begangener oder vom jordanischen Staat angenommener politischer Aktivitäten - einem besonderen individuellen Risiko der Entziehung der Staatsangehörigkeit ausgesetzt wäre. Dagegen spricht schon, dass der Kläger - wie ausgeführt - mehrfach (zuletzt im Jahr 2012) einen jordanischen Reisepass erhalten hat und ihm die Staatsangehörigkeit auch nicht anlässlich seiner Einreise nach Jordanien im Jahr 2015 entzogen wurde. Angesichts der ungehinderten Einreise ist auch nicht davon auszugehen, dass die Passausstellung bei der jordanischen Botschaft in ... ein besonderes Risiko für ein späteres Einreiseverbot oder die Entziehung der jordanischen Staatsangehörigkeit begründet. [...]
53 Soweit Fälle bekannt geworden sind, in denen jordanische Behörden Personen mit abgelaufenen jordanischen Pässen die Einreise verweigert hat oder ihnen die Staatsangehörigkeit entzogen wurde, handelt es sich nach der Auskunftslage ebenfalls (nur) um einige Fälle [...], so dass ebenfalls nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit davon auszugehen ist, dass dem Kläger die Entziehung der Staatsangehörigkeit droht, weil sein Reisepass inzwischen abgelaufen ist. [...]
54 Als jordanischer Staatsangehöriger kann der Kläger - wie ausgeführt - nach Jordanien einreisen und hat nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit in Jordanien mit einer Abschiebung nach Syrien zu rechnen. Er hat dort - wie ebenfalls ausgeführt - grundsätzlich die gleichen Rechte wie andere jordanische Staatsangehörige. Insbesondere hat er einen Zugang zu allen für ihn in Betracht kommenden Arbeitstätigkeiten, auch wenn es faktische Benachteiligungen für Palästinenser gibt.
55 e) Es spricht viel dafür, dass der Kläger im Falle eines Aufenthalts in Jordanien nicht in eine allgemeine Notlage geraten wird, die es ihm nicht erlaubt, seine elementarsten Bedürfnisse zu befriedigen.
56 (1) Die allgemeine wirtschaftliche Lage in Jordanien beschreibt das BFA (a.a.O., S. 33 f.) wie folgt:
57 Jordaniens Volkswirtschaft sei schwach. Das Land verfüge nur über wenige natürliche Ressourcen und sehr begrenzte landwirtschaftliche Nutzflächen. Die Staatsverschuldung nehme weiter zu. [...]
58 (2) Auch unter Berücksichtigung dieser allgemein schwierigen wirtschaftlichen Lage in Jordanien ist davon auszugehen, dass es dem Kläger gelingen wird, in Jordanien eine Arbeitstätigkeit auszuüben und damit ein Einkommen zu erzielen, das es ihm ermöglicht, den existenziellen Lebensunterhalt zu sichern, also insbesondere die Miete für eine Wohnung und die Kosten für den Lebensunterhalt auf niedrigem Niveau aufzubringen [...].
59 Der Kläger ist mit einem Lebensalter von 49 Jahren und ohne gesundheitliche Beeinträchtigungen in der Lage, eine Vielzahl von Arbeitstätigkeiten auszuüben. Er hat jahrelang selbständig als Elektriker und Maler gearbeitet und verfügt in diesen Berufen über große Erfahrung, was für ihn auch einen Vorteil gegenüber anderen Arbeitssuchenden bedeuten dürfte. Es gibt keine Anhaltspunkte dafür, dass in Jordanien keine Nachfrage nach einer Tätigkeit etwa in diesen Bereichen bestehen wird, auch wenn in Jordanien allgemein eine hohe Arbeitslosigkeit herrscht und die Löhne niedrig sind. [...]
60 5. Soweit der Kläger befürchtet, er müsse bei einer Rückkehr nach Jordanien dauerhaft von seiner Ehefrau und seinen Kindern getrennt leben, die sich derzeit in Syrien aufhalten, ergibt sich daraus kein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG.
61 Es ist schon zweifelhaft, ob ein nationales Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG darauf gestützt werden kann, dass in dem Zielstaat ein Zusammenleben mit den in einem Drittstaat lebenden Familienangehörigen nicht möglich ist. [...]
62 Es bedarf jedoch keiner abschließenden Klärung, ob und ggf. unter welchen Voraussetzungen Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 8 EMRK in Betracht kommt, um dem betroffenen Ausländer eine Zusammenführung mit seinen im Ausland lebenden Familienangehörigen zu ermöglichen. Denn nach der Erkenntnislage steht einem Zusammenleben des Klägers mit seiner Ehefrau und seinem minderjährigen Kind in Jordanien nichts entgegen.
63 Ausländische Ehefrauen und Kinder von männlichen jordanischen Staatsangehörigen erhalten nach Informationen des Auswärtigen Amts (Auskunft vom 17. Mai 2017) Aufenthaltserlaubnisse für Jordanien, wenn alle sonstigen ausländerrechtlichen Voraussetzungen gegeben sind. [...]