Alleinstehenden Frauen droht in Afghanistan Verfolgung:
1. Zumindest alleinstehende Frauen sind in Afghanistan eine soziale Gruppe gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 4 AsylG.
2. Als alleinstehende Frau wäre die Klägerin vom öffentlichen Leben in nahezu jeder Hinsicht ausgeschlossen, hätte praktisch keine Möglichkeit, sich zu versorgen und müsste mit körperlichen Misshandlungen staatlicher und nichtstaatlicher Organe rechnen. Zumindest kumulativ sind diese Maßnahmen gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG derart schwerwiegend, dass sie eine schwerwiegende Verletzung grundlegender Menschenrechte und mithin Verfolgung gemäß § 3a AsylG darstellen.
(Leitsätze der Redaktion)
Siehe auch:
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Die Klage ist begründet. Der angefochtene Bescheid der Beklagten ist im Umfang der Anfechtung rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG. [...]
Die Klägerin kann geltend machen, als alleinstehende, getrenntlebende Frau ohne familiäre Einbettung in Afghanistan als Angehörige der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen mit der für die Gewährung internationalen Schutzes erforderlichen erheblichen Wahrscheinlichkeit Furcht vor Verfolgung zu haben, entweder durch die momentanen Machthaber in Afghanistan oder weil diese keinen Schutz vor nichtstaatlichen Verfolgungshandlungen bieten.
Alleinstehende Frauen sind eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG. Das ergibt sich - unabhängig von der Frage, ob die Tatbestandsmerkmale des § 3b Abs. 1, Nr. 4 1. Hs. a) und b) konkret erfüllt sind - aus der gesetzlichen Wertung des § 3b Abs. 1 Nr. 4 3. Hs. AsylG. Danach kann Verfolgung wegen Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe auch vorliegen, wenn sie allein an das Geschlecht anknüpft. Demnach wird vom Gesetz vorausgesetzt, dass das Geschlecht schon für sich genommen für eine bestimmte soziale Gruppe typgebend und damit ein flüchtlingsrelevantes Merkmal sein kann. Ob das schon bedeutet, dass allein schon der Umstand, eine Frau zu sein, begründete Furcht vor Verfolgung auslöst, kann vorliegend dahinstehen, denn es steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass jedenfalls alleinstehende, getrenntlebende Frauen in Afghanistan mit der für die Gewährung internationalen Schutzes erforderlichen erheblichen Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen befürchten müssen. Die Situation für nicht verheiratete Frauen in Afghanistan stellt sich zur Zeit wie folgt dar: Sie sind gezwungen, sich in der Öffentlichkeit nur mit Verschleierung zu zeigen. Sind dabei die Regeln nicht ganz einheitlich, wie stark die Verschleierung sein muss, ist es ratsam, das Gesicht möglichst ganz zu verdecken und nur einen Schlitz für die Augen zu lassen, denn wenn auch eine Verschleierung nur mit Hijab zum Teil toleriert wird, ist immer wieder damit zu rechnen, dass willkürlich die Taliban strengere Verschleierungen ad hoc verlangen und Frauen, die als unislamisch gekleidet angesehen werden, körperlichen Misshandlungen ausgesetzt sind. In der Öffentlichkeit können sich Frauen ohne Ehemann oder ein anderes männliches Familienmitglied als mahram kaum noch frei bewegen. Ausdrücklich verboten ist das Betreten von Gesundheitseinrichtungen ohne männliche Begleitung. Sofern Frauen ohne Begleitung in der Öffentlichkeit überhaupt von den Taliban in Einzelfällen toleriert werden, werden solche Frauen jedenfalls nicht vor Übergriffen von nichtstaatlicher Seite geschützt. Längere Reisen ohne männliche Begleitung sind ihnen ausdrücklich verboten. Der Zugang zu höherer Bildung ist ihnen praktisch verwehrt. Nur Grundschulbildung - und auch dies in vielen Fällen nicht - wird für Mädchen angeboten. Anfängliche Tendenzen, Universitäten unter engen Voraussetzungen auch für Frauen zu öffnen, waren nicht nachhaltig. Frauen sind dort wiederum nicht zugelassen. Das Betreten von Parks ist Frauen verboten. Sie dürfen keinen Sport treiben und keine öffentlichen Bäder besuchen. Der Zugang zum ohnehin aufgrund der wirtschaftlichen Situation erheblich angespanntem Arbeitsmarkt ist für Frauen erheblich erschwert. Vielen Frauen, die bis zur Übernahme der Macht durch die Taliban Arbeit hatten, waren gezwungen, ihre Arbeit aufzugeben. Vereinzelt wird berichtet, dass insbesondere informelle Arbeit durch Frauen erledigt werden kann, jedoch wird es ohne männliche Begleitung schwerlich möglich sein, sich außerhalb des geschützten häuslichen Bereichs auf Arbeitssuche oder zu einer Arbeitsstelle zu bewegen. Politische Aktivitäten von Frauen finden jenseits gelegentlicher Straßenproteste, die zudem häufig gewaltsam unterbunden werden, praktisch nicht statt. Frauen haben keinen Zugang zu öffentlichen Ämtern. [...]
Die Klägerin müsste daher in Afghanistan damit rechnen, dass sie außerhalb des häuslichen Bereichs sich nicht sicher bewegen könnte und jederzeit von staatlicher oder nichtstaatlicher Seite misshandelt werden würde, selbst wenn sie sich den strengen Kleidungsvorschriften unterwirft. Der Arbeitsmarkt wäre für sie praktisch verschlossen. Freizeitaktivitäten wären ihr nicht zugänglich, ebenso wenig der Zugang zu Bildung. Würde sie sich nicht an die strengen Vorgaben halten, müsste sie mit körperlichen Misshandlungen staatlicher oder nichtstaatlicher Organe bis hin zu Vergewaltigungen, Auspeitschungen oder willkürlicher Tötung rechnen. Zusammengefasst: Sie wäre vom öffentlichen Leben in nahezu jeder Hinsicht ausgeschlossen und hätte praktisch keine Möglichkeit, sich zu versorgen. Das stellt Verfolgung dar. Gemäß § 3a Abs. 2 Nr. 1, 2 und 6 AsylG sind die Anwendung physischer oder psychischer, auch sexueller Gewalt, gesetzliche und administrative Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind und Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen, wenn sie von staatlichen oder nichtstaatlicher Akteuren, gegen die der Staat keinen Schutz bieten kann oder will, ausgehen, typische Verfolgungshandlungen. Sie stellen Verfolgung dar, wenn sie gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen. Rechte, die vorliegend verletzt sind, sind insbesondere das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit, das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Freizügigkeit und das Recht auf Gleichbehandlung. Selbst wenn man jede Verletzung für sich genommen nicht als ausreichend ansähe, dass eine schwerwiegende Verletzung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG anzunehmen sein würde, so ist jedenfalls das Gesamtbild der Verletzungshandlungen dafür ausreichend. Denn auch wenn Verletzungshandlungen für sich genommen nicht für die Annahme von Verfolgung ausreichend sein sollten, gilt bei einer Vielzahl unterschiedlicher Handlungen, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, wenn sie in ihrer Kumulierung gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise davon betroffen ist. [...]