VG Berlin

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Zitieren als:
VG Berlin, Urteil vom 24.04.2023 - 28 K 448.18 A (Asylmagazin 7-8/2023, S. 263 ff.) - asyl.net: M31526
https://www.asyl.net/rsdb/m31526
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Person aus Somalia wegen drohender Zwangsrekrutierung durch Al Shabaab:

1. Besteht bei Rückkehr in die Herkunftsregion in Somalia (hier: Bay) mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr einer Zwangsrekrutierung durch die Al Shabaab-Miliz, so droht gemäß § 4 Abs. 1 Nr. 2 AsylG eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung und ist deshalb der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen.

2. Die betroffene Person ist nicht gemäß § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG, § 3e Abs. 1 AsylG auf internen Schutz innerhalb Somalias zu verweisen. Auch ein junger, gut ausgebildeter, gesunder Mann wird nach mehreren Jahren im Ausland und ohne hinreichende Unterstützung von Clan- (hier: Rahanweyn) oder Familienstrukturen nicht in der Lage sein, in der Hauptstadt Mogadischu oder in einer anderen Region Somalias ein Existenzminimum zu erwirtschaften. In Somaliland ist eine interne Fluchtalternative auch deshalb nicht zu erlangen, weil Menschen aus Süd- und Zentralsomalia dort nur eingeschränkte Bürger*innenrechte haben und nur Rückkehrer*innen der dort ansässigen Clans akzeptiert werden.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Hannover, Urteil vom 03.04.2023 - 4 A 4221/21 - asyl.net: M31510)

Schlagwörter: Somalia, subsidiärer Schutz, Al Shabaab, Zwangsrekrutierung, interner Schutz, Mogadischu, Somaliland, Rahanweyn, Bay, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Existenzgrundlage, Dürre, Hunger, innerstaatlicher bewaffneter Konflikt, Bürgerkrieg,
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 Nr. 2, AsylG § 4 Abs. 3 S. 1, AsylG § 3e Abs. 1
Auszüge:

[...]

a) Der Kläger hat Anspruch auf Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1, 3 AsylG. [...]

bb) [...] Ihm droht eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. [...]

Eine Behandlung ist unmenschlich, wenn sie vorsätzlich und ohne Unterbrechung über Stunden zugefügt wurde und entweder körperliche Verletzungen oder intensives psychisches oder physisches Leid verursacht hat. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie eine Person demütigt oder erniedrigt, es an Achtung für ihre Menschenwürde fehlen lässt oder sie herabsetzt oder in ihr Gefühle der Angst, Beklemmung oder Unterlegenheit erweckt, die geeignet sind, den moralischen oder körperlichen Widerstand zu brechen (EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - 30696/09 (M.S.S./Belgien und Griechenland) -, NVwZ 2011, 413 Rn. 220). [...]

(2) Daran gemessen droht dem Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung in Form einer zwangsweisen Rekrutierung durch und Tätigkeit für die Al Shabaab-Miliz.

(a) Auf Basis der o.g. Kriterien in der Rechtsprechung des EGMR zu Art. 3 EMRK ist zunächst zu berücksichtigen, dass eine Rekrutierung durch die Al Shabaab grundsätzlich auf längere Zeit angelegt ist. Denn die Al Shabaab verfolgt ein langfristiges Ziel: Es soll ein islamischer Staat in Somalia errichtet werden, basierend auf islamischem Recht und unter Eliminierung von dem Einfluss Ungläubiger [...].

Hinzu tritt, dass der Zwang zur Beteiligung an oder Unterstützung von Verbrechen und Gräueltaten der islamistischen Miliz eine besondere Schwere der Behandlung bedeutet. Hervorzuheben sind neben dem körperlichen Verletzungsrisiko durch gegebenenfalls erzwungene Kampfhandlungen auch intensive psychische Leiden, die eine längerfristige erzwungene Zugehörigkeit zu Al Shabaab und der Zwang zur Teilnahme an oder Unterstützung von Gewalttaten in aller Regel auslöst. [...]

(b) Eine zwangsweise Rekrutierung durch die Al Shabaab ist im Falle des Klägers auch beachtlich wahrscheinlich. [...]

Der Kläger trug in der mündlichen Verhandlung zu den damaligen Geschehnissen vor, dass zwei Männer der Al Shabaab im letzten Monat, als er in Somalia gewesen sei, zur ...schule gekommen seien. Sie hätten ihm eine Einladung gebracht, dass er zu einer bestimmten Zeit zu einem Gespräch mit dem Regionalverantwortlichen der Miliz kommen solle, und ihn gefragt, was er den Kindern beibringe. Die Männer hätten gesagt, dass die Miliz so einen wie ihn brauche und dass er ihnen beitreten solle. Als sie ihm diesen Vorschlag gemacht hätten, habe er geantwortet, dass er sich Gedanken darüber machen müsse und sich mit seiner Familie beraten müsse. Seiner Familie und ihm sei klar gewesen, dass er den Ort verlassen müsse, weil er entweder mit ihnen arbeiten müsste, was er nicht gewollt habe, oder es Konsequenzen für ihn geben würde. [...]

Ausgehend von dem glaubhaften Vortrag des Klägers ist zunächst festzuhalten, dass seine Herkunftsregion [...] beachtlich wahrscheinlich ein von der Al Shabaab kontrolliertes Gebiet war und ist [...].

Generell rekrutiert Al Shabaab vor allem in den Gebieten, die unter ihrer Kontrolle stehen, wobei hier auch Zwangsrekrutierungen erfolgen (s. EUAA, Country Guidance: Somalia, Juni 2022, S. 83). Zu Zwangsrekrutierungen kommt es zwar vor allem bei Kindern bzw. jungen Männern zwischen 12 und 24 Jahren (s. EUAA, Country Guidance: Somalia, Juni 2022, S. 85; Bundesamt, Länderreport 40: Somalia - Al Shabaab: Überblick, Rekrutierung und Desertion, Juli 2021, S. 8). Zwang kommt aber auch generell - neben Rekrutierungsansätzen, die mehr oder weniger auf Freiwilligkeit setzen - zum Einsatz. So rekrutiert die Miliz ihre Mitglieder unter anderem auch mithilfe von Entführungen und Drohungen. [...]

Weiterhin ist bei alledem zu berücksichtigen, dass Al Shabaab nicht nur Soldaten für den Kampf rekrutiert. Vielmehr dient die Rekrutierung einer Vielzahl von Zwecken, etwa auch der administrativen Unterstützung, der Steuereintreibung, der Förderung von Einsätzen und dem Sammeln von Informationen. Die Rekrutierung umfasst sowohl Männer als auch Frauen und findet in allen Altersgruppen statt. Der Zweck der Rekrutierung wird durch Alter, Geschlecht, Bildungsstand und frühere Berufe beeinflusst. Al Shabaab rekrutiert nicht nur Kämpfer, sondern auch Verwaltungspersonal, Finanziers, Logistiker, Richter, Mechaniker, Fahrer, Träger, Reinigungskräfte, Köche, Verwaltungs- und Gesundheitspersonal sowie Lehrer [...].

Hinzu kommt, dass Al Shabaab Berichten zufolge versucht, Personen, die in ihre Territorien zurückkehren, zu rekrutieren, weil sie häufig Aufgaben wie Informationsbeschaffung und bewaffnete Angriffe besser übernehmen können, da Einheimische und Behörden bei ihnen weniger misstrauisch seien [...].

Bei alledem ist auch davon auszugehen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr gegenüber der Al Shabaab auffallen würde. Grundlegend ist das große Al Shabaab-Netzwerk mit Informantinnen und Informanten überall in Somalia, selbst in Mogadischu, hervorzuheben [...]. Hinzu kommt, dass bereits auf dem Weg in die Herkunftsregion die in Somalia weit verbreiteten Checkpoints und Straßenkontrollen der Miliz [...] zu passieren wären. [...]

Als weiterer risikosteigernder Faktor ist im Falle des Klägers zu berücksichtigen, dass nach seinem Vortrag in der mündlichen Verhandlung zwischenzeitlich seine jüngere Schwester mit einem Al Shabaab-Kämpfer verheiratet worden ist. [...] Dies bedeutet für den Kläger, dass nunmehr eine familiäre Verwicklung mit der Al Shabaab besteht, welche ihn - auf Basis seiner übrigen individuell gefahrerhöhenden Umstände - noch eher in das Visier der Miliz geraten lassen wird.

Die vorstehenden Umstände sprechen im Falle des Klägers in der Gesamtschau -  unter Einbeziehung der damaligen Geschehnisse im Jahr 2017 - dafür, dass ein beachtlich wahrscheinliches Risiko einer Zwangsrekrutierung besteht. Dies war in Ansehung seiner individuellen risikosteigernden Umstände sowie der vorliegenden Erkenntnisse zu Zwangsrekrutierungen durch Al Shabaab, zu seiner Herkunftsregion und zu seinem Clan zu beurteilen. Im Jahr 2017 war es, wie bereits erwähnt, zwar noch nicht zu hinreichend intensiven Maßnahmen gekommen, um von einer versuchten Zwangsrekrutierung auszugehen. Dies lag jedoch daran, dass der Kläger mit der Unterstützung seiner Familie sehr schnell reagierte und seine Herkunftsregion unverzüglich verließ.

cc) Bei der Al Shabaab-Miliz handelt es sich um einen nichtstaatlichen Akteur, von dem vorliegend die unmenschliche Behandlung ausgeht, § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG. Der somalische Staat (§ 3d Abs. 1 Nr. 1 AsylG) oder die Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§·3d Abs. 1 Nr. 2.AsylG), waren und sind nicht in der Lage, nach Maßgabe des § 3d Abs. 1 und 2 AsylG wirksamen und nicht nur vorübergehenden Schutz zu bieten. [...]

dd) Eine interne Fluchtalternative gemäß § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG besteht für den Kläger nicht. [...]

(2) [...] Er kann nicht auf andere Landesteile außerhalb seiner unmittelbaren Herkunftsregion, insbesondere nicht auf Mogadischu, verwiesen werden. Von ihm kann vernünftigerweise nicht erwartet werden, dass er sich dort niederlässt, weil es für ihn ohne hinreichende Unterstützung durch Clan- und Familienangehörige aller Wahrscheinlichkeit nach bereits nicht möglich wäre, dort sein Existenzminimum zu sichern. [...]

(b) Vor dem Hintergrund dieser Erkenntnisse ist es unter Berücksichtigung:der schlechten humanitären Lage in Somalia und der individuellen Umstände des Klägers beachtlich wahrscheinlich, dass er in anderen Landesteilen außerhalb seiner Heimatregion, einschließlich Mogadischu, keine seine existenziellen Grundbedürfnisse abdeckende Arbeit und Unterkunft finden kann und dass ihm eine Verelendung drohte, die mit der Menschenwürde unvereinbar ist.

Zwar ist er jung, körperlich gesund und grundsätzlich arbeitsfähig. Zudem hat er neben zusätzlichen Sprachkenntnissen, vor allem Englisch, eine solide Ausbildung, die er in Deutschland weiter vorangetrieben hat, sodass er nach eigenem Bekunden nunmehr kurz vor dem ... Abschluss ... steht.

Allerdings hat er Somalia bereits vor mehr als fünfeinhalb Jahren verlassen und lebte auch zuvor bereits mindestens sieben Jahre im Ausland, namentlich in Kenia (ca. zwei Jahre) und in ... (ca. fünf Jahre). Der ..-jährige Kläger verbrachte somit nach dem Heranwachsen zum Jugendlichen nahezu sein gesamtes Erwachsenenleben im Ausland. Zudem hat er nie in Mogadischu, wo eine Abschiebung enden würde, gelebt, sondern sich dort nur sehr kurzzeitig im Rahmen seiner Flucht im Jahr 2017 aufgehalten. Unter den derzeit herausfordernden und speziellen Bedingungen im Falle einer Rückkehr nach Somalia wird er beachtlich wahrscheinlich dort sein Existenzminimum nicht sichern können. Denn entscheidend dafür ist in Somalia, insbesondere mit Blick auf die im vergangenen Jahr nochmals verschlechterte humanitäre Lage unter anderem infolge der Dürren und den dadurch gestiegenen Konkurrenzdruck für Rückkehrer, dass die rückkehrende Person auf hinreichende Unterstützung durch Familien- und Clanangehörige zurückgreifen kann. Dies ist hier jedoch nicht der Fall.

Der Clan des Klägers, die Rahanweyn, zählen zwar grundsätzlich zu den Mehrheitsclans in Somalia [...]. Allerdings wird auch erwähnt, dass einige Mitglieder der anderen Mehrheitsclans den Rahanweyn einen niederen Status zuordnen. Zudem ist die Rolle jedes Clans spezifisch mit Blick auf die jeweilige Region zu beurteilen [...]. Generell sind sie häufig Diskriminierung und Ausbeutung durch mächtigere Gruppen ausgesetzt, wenn sie in andere clanbasierte Gebiete vertrieben wurden. [...] Auch ältere Erkenntnismittel weisen darauf hin, dass die Rahanweyn schon seit Längerem verstärkt von Binnenvertreibungen betroffen sind und in Mogadischu eine schwache Stellung haben, sodass ihre Mitglieder dort als vulnerabler im Vergleich zu anderen Bevölkerungsgruppen einzuordnen sind. So sollen Angehörige der Rahanweyn (und der Bantu) unter anderem aufgrund ihrer gesellschaftlichen Stellung insbesondere von Hunger und in Mogadischu von Misshandlung bedroht sein. [...]

Darüber hinaus sind zwar die noch in Somalia vorhandenen Familienangehörigen des Klägers zu berücksichtigen. [...] Die in Bay lebenden Familienangehörigen des Klägers leben allerdings von der Landwirtschaft bzw. dem Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse, sodass sie bei lebensnaher Betrachtung besonders von der intensiven und langanhaltenden Dürre in Somalia betroffen sind. [...] Auch auf seine Tanten in den Niederlanden und in Mogadischu kann die Annahme einer Existenzsicherung nicht gestützt werden. Denn diese schicken den übrigen Verwandten ihrerseits bereits Geld, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass zusätzliche substantielle Beträge für den Kläger übrig wären. [...]

Auch auf Somaliland muss sich der Kläger nicht verweisen lassen. Es ist nicht hinreichend sicher, dass er sich dort niederlassen könnte. Menschen aus Süd-/Zentralsomalia können sich grundsätzlich zwar dort ansiedeln, sie werden jedoch nur "halb" akzeptiert, es kommen ihnen keine Staatsbürgerrechte zu [...]. Hervorzuheben ist zudem, dass Somaliland neben den aus Somaliland stammenden Rückkehrern nur Angehörige der ansässigen Clans oder Sub-Clans akzeptiert [...]. Der Kläger stammt aber weder aus Somaliland, noch ist sein Clan dort ansässig. [...] Im Übrigen führt die angespannte humanitäre Lage in Somaliland unter Berücksichtigung der individuellen Umstände des Klägers dazu, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK anzunehmen wäre. Auch in vielen Teilen Somalilands gibt es eine hohe Unsicherheit bei der Nahrungsmittelversorgung und Armut. [...]