VG Arnsberg

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Zitieren als:
VG Arnsberg, Urteil vom 25.04.2023 - 11 K 477/22 - asyl.net: M31525
https://www.asyl.net/rsdb/m31525
Leitsatz:

Ablehnung eines Folgeantrags als unzulässig wegen fehlender Anhörung rechtswidrig:

1. Im Folgeantragsverfahren gemäß § 71 AsylG hat grundsätzlich eine persönliche Anhörung im Sinne von § 25 Abs. 1 AsylG zu erfolgen.

2. Nur ausnahmsweise kann das BAMF gemäß § 71 Abs. 3 S. 3 AsylG von einer persönlichen Anhörung absehen, wobei diese Entscheidung im Ermessen des BAMF steht und einer Begründung bedarf. Sind keinerlei Ermessenserwägungen erkennbar, liegt ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs vor und der Unzulässigkeitsbescheid gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG ist rechtswidrig.

3. Dieser Verfahrensfehler ist auch dann nicht gemäß § 46 VwVfG unbeachtlich, wenn er die Entscheidung offensichtlich nicht beeinflusst hat. Denn § 46 VwVfG ist nur dann mit Art. 14, Art. 34 AsylVerf-RL (RL 2013/32/EU) vereinbar und anzuwenden, wenn der antragstellenden Person in einer Art. 15 AsylVerf-RL entsprechenden persönlichen Anhörung Gelegenheit gegeben wurde, sämtliche gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens in der Sache keine andere Entscheidung ergehen kann.

4. Das rechtswidrige Absehen von der Anhörung ist auch nicht gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG durch das Gerichtsverfahren geheilt, denn grundsätzlich reichen Äußerungen der Beteiligten im Gerichtsverfahren nicht aus, um den Verfahrensfehler einer unterlassenen Anhörung zu heilen. Einer ausnahmsweisen Heilung im Gerichtsverfahren steht entgegen, dass dem BAMF der Mangel der Anhörung weder bewusst war noch eine persönliche Anhörung nachgeholt wurde.

(Leitsätze der Redaktion; unter Bezug auf: VG Minden, Urteil vom 06.04.2022 - 10 K 3200/20.A (Asylmagazin 12/2022, S. 407) - asyl.net: M30710)

Schlagwörter: Asylfolgeantrag, Anhörung, Ermessen, Verfahrensfehler, Heilung, Asylverfahrensrichtlinie, Unzulässigkeit, Ermessensausfall,
Normen: AsylG § 71 Abs. 1, AsylG 71 Abs. 3 S. 3, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, VwVfG § 46, VwVfG § 45 Abs. 1 Nr. 3, RL 2013/32/EU Art. 14, RL 2013/32/EU Art. 34, RL 2013/32/EU Art. 15
Auszüge:

[...]

Mit Urteil vom 22.08.2018 - 7 K 15158/17.A - hat das VG Düsseldorf die Klage abgewiesen, nachdem der Kläger der mündlichen Verhandlung ferngeblieben war.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 25.11.2021, beim Bundesamt eingegangen am 30.11.2021, beantragte der Kläger die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens und eine persönliche Anhörung. [...]

Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig, weil das Bundesamt die nach § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG erforderliche Anhörung des Klägers unterlassen hat. Der Mangel der unterlassenen Anhörung ist nicht unbeachtlich und wurde nicht geheilt. Zum Verzicht einer Anhörung im Folgeverfahren sowie zur Beachtlichkeit und Heilung einer unterlassenen Anhörung im Folgeverfahren hat das VG Minden mit Urteil vom 06.04.2022 - 10 K 3200/20.A -, juris, Rn. 28 ff., folgendes festgestellt:

"[...] Zwar kann das Bundesamt im Folgeantragsverfahren nach § 71 Abs. 3 Satz 3 AsylG von einer Anhörung des Folgeantragstellers absehen. Die Anhörung des Folgeantragstellers ist danach aber nicht von Gesetzes wegen grundsätzlich entbehrlich. Im Gegenteil ergibt sich aus dem eindeutigen Wortlaut der Regelung ("kann absehen"), dass eine Anhörung, womit die persönliche Anhörung im Sinne von § 25 AsylG gemeint ist, grundsätzlich zu erfolgen hat, das ausnahmsweise Absehen von einer solchen aber möglich und in das Ermessen des Bundesamtes gestellt ist. [...]

Räumt eine Vorschrift der Behörde - wie hier § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG - die Befugnis ein, darüber zu entscheiden, ob auf eine grundsätzlich erforderliche Anhörung verzichtet wird, steht die insofern zu treffende Entscheidung über den Verzicht im Verfahrensermessen der Behörde. Diese Entscheidung bedarf einer Begründung, die nicht gesondert erfolgen muss, sondern auch in der abschließenden Sachentscheidung erfolgen kann. Sie muss ferner erkennen lassen, auf welchen Erwägungen die Entscheidung, von der Anhörung abzusehen, beruht. [...]

Das Bundesamt hat von seinem Verfahrensermessen keinen Gebrauch gemacht, was einen der gerichtlichen Überprüfung unterliegenden Ermessensfehler (vgl. §§ 40 VwVfG NRW, 114 Abs. 1 Satz 1 VwGO) in Form des Ermessensausfalls bzw. des Ermessensnichtgebrauchs darstellt. Ob von einer Ermessensermächtigung Gebrauch gemacht wurde, ist anhand aller erkennbaren Umstände zu beurteilen. [...] Dies ist maßgeblich, aber nicht ausschließlich anhand einer Auslegung des Bescheides zu ermitteln. [...]

Das Fehlen einer Ermessensbegründung ist jedoch ein starkes Indiz für einen materiellen Ermessensausfall. [...] Weder der angefochtene Bescheid noch der beigezogene Verwaltungsvorgang des Bundesamtes lassen erkennen, dass dieses sein Ermessen hinsichtlich des Absehens von einer Anhörung ausgeübt hat. [...]

b. Der Fehler der unterlassenen Anhörung ist auch nicht unbeachtlich nach § 46 VwVfG. Zwar ist das rechtswidrige Unterbleiben einer erforderlichen Anhörung grundsätzlich nach § 46 VwVfG NRW unerheblich, wenn es sich bei der das Verwaltungsverfahren abschließenden Entscheidung um eine gebundene Entscheidung handelt, die nicht anders hätte ergehen können. [...]

Die Anwendung des § 46 VwVfG ist jedoch nur mit Art. 14 und Art. 34 der Richtlinie 2013/32/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zu gemeinsamen Verfahren für die Zuerkennung und Aberkennung des internationalen Schutzes (ABl. 2013 L 180, S. 60; im Folgenden: Richtlinie 2013/32/EU) vereinbar, wenn dem Ausländer - im Gegensatz zum Verfahrensverlauf im hiesigen - asylgerichtlichen Verfahren in einer die grundlegenden Bedingungen und Garantien im Sinne des Art. 15 Richtlinie 2013/32/EU wahrenden persönlichen Anhörung Gelegenheit gegeben worden ist, sämtliche gegen eine Unzulässigkeitsentscheidung sprechenden Umstände vorzubringen, und auch unter Berücksichtigung dieses Vorbringens in der Sache keine andere Entscheidung ergehen kann. [...]

Das erkennende Gericht sieht keinen Grund, die unterbliebene Anhörung durch eine eigene Anhörung des Klägers nachzuholen. Auch die im Asylverfahren geltende Konzentrations- und Beschleunigungsmaxime gebietet nichts anderes. [...]

c. Die fehlende Anhörung ist auch nicht nach § 45 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG NRW geheilt. Nach dieser Norm ist eine Verletzung von Verfahrens- oder Formvorschriften, die den Verwaltungsakt nicht nach § 44 VwVfG NRW nichtig macht, unbeachtlich, wenn die erforderliche Anhörung eines Beteiligten nachgeholt wird. Eine solche Heilung setzt voraus, dass die Behörde nachträglich die Anhörung ordnungsgemäß durchführt und ihre Funktion für den Entscheidungsprozess der Behörde uneingeschränkt erreicht wird. Diese Funktion besteht nicht allein darin, dass der Betroffene seine Einwendungen vorbringen kann und diese von der Behörde zur Kenntnis genommen werden, sondern schließt vielmehr ein, dass die Behörde ein etwaiges Vorbringen bei ihrer Entscheidung in Erwägung zieht. Äußerungen und Stellungnahmen von Beteiligten im gerichtlichen Verfahren reichen als solche zur Heilung einer zunächst unterbliebenen Anhörung daher grundsätzlich nicht aus. [...]

Daher ist eine Heilung bisher nicht erfolgt. Aufgrund des derzeitigen Sach- und Streitstandes ist eine ausnahmsweise Heilung im gerichtlichen Verfahren bereits deswegen nicht anzunehmen, weil sich das Bundesamt des Mangels der Anhörung bisher nicht bewusst war und eine unabdingbare persönliche Anhörung des Klägers im Sinne von § 25 Abs. 1 AsylG oder aber zumindest die Einräumung der Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 29 Abs. 2 Satz 2 AsylG nicht erfolgt sind. [...]"

Den vorstehenden Ausführungen des VG Minden, die auf den vorliegenden Sachverhalt übertragbar sind, schließt sich der Einzelrichter nach eigener Prüfung vollinhaltlich an. [...]