VG Köln

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Zitieren als:
VG Köln, Urteil vom 11.01.2023 - 22 K 6505/20.A - asyl.net: M31524
https://www.asyl.net/rsdb/m31524
Leitsatz:

Subsidiärer Schutz für Frau aus Aserbaidschan wegen geschlechtsspezifischer Gewalt:

1. Die Gewalt gegen Frauen in Aserbaidschan nimmt zu. In den letzten Jahren wurde eine hohe Zahl an Femiziden verzeichnet, wobei von einer großen Dunkelziffer auszugehen ist. Die Ansicht des BAMF, wonach Männer und Frauen in der Hauptstadt Baku gleichbehandelt würden, findet in den Erkenntnismitteln keine Stütze.

2. Der Klägerin droht aufgrund einer Liebesbeziehung gegen den Willen ihrer Familienangehörigen Gewalt durch ihren Bruder und ihren Vater und dadurch ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2 AsylG.

3. Die männlichen Familienmitglieder sind Verfolgungsakteure i.S.v. § 4 Abs. 3 S. 1 AsylG, § 3c Nr. 3 AsylG, weil der Staat nicht willens oder in der Lage ist, effektiven Schutz gemäß § 3d Abs. 1 AsylG zu bieten. Denn die Justiz ist korrupt und nicht unabhängig. Der Schutz vor häuslicher Gewalt ist lückenhaft. Die Polizei registriert Meldungen über häusliche Gewalt häufig nicht oder reagiert nicht darauf.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Köln, Urteil vom 07.04.2021 - 22 K 7025/18.A - asyl.net: M29578)

Schlagwörter: Aserbaidschan, Frauen, geschlechtsspezifische Verfolgung, Schutzbereitschaft, nichtstaatliche Verfolgung, subsidiärer Schutz, ernsthafter Schaden, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, geschlechtsspezifische Gewalt
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, AsylG § 3c Nr. 3, AsylG § 3d Abs. 1, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Der Klägerin droht aber eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung i. S. d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. [...]

Danach ist unter einer unmenschlichen Behandlung die vorsätzliche Zufügung entweder körperlicher Verletzungen oder intensiven physischen oder psychischen Leids zu verstehen. Erniedrigend ist eine Behandlung, wenn sie geeignet ist, das Opfer zu demütigen, zu erniedrigen oder zu entwürdigen (vgl. OVG NRW, Urteil vom 28. August 2019 – 9 A 4590/18.A –, juris, Rn. 144 unter Verweis auf EGMR, Urteil vom 21. Januar 2011 - Nr. 30696/09 , M.S.S. / Belgien und Griechenland -, Rn. 220). [...]

Der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter ist von der Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin, wonach sie durch ihre männlichen Verwandten, insbesondere ihrem Bruder, mit dem Tode bedroht wird, überzeugt. [...]

Nach allem stellt sich jedenfalls das Kerngeschehen, wonach die Klägerin eine – gegenüber ihrer Familie geheim gehaltenen – Liebesbeziehung mit einem Armenier geführt hat und von diesem schwanger geworden ist, als glaubhaft dar. Auch die daraus resultierenden Bedrohungen der Klägerin durch ihren Vater und ihren Bruder stellen sich als glaubhaft dar. Letzteres findet in den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln eine Stütze. So garantiert die aserbaidschanische Verfassung zwar die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Im Großraum Baku soll dieser Grundsatz auch weitgehend der Praxis entsprechen. Allerdings sind auf dem Land traditionelle Vorstellungen der Geschlechterverhältnisse stark verbreitet (AA Lagebericht 2022, S. 14).

Nach einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe (SFH) ((Aserbaidschan: Verbrechen im Namen der "Ehre" - Auskunft der SFH-Länderanalyse vom 8. April 2022, Seiten 4 bis 6, dort mit zahlreichen weiteren Nachweisen)) nimmt die Gewalt gegen Frauen in Aserbaidschan zu. Geschlechtsspezifische Gewalt sei weit verbreitet und werde selten gemeldet. In den letzten Jahren sei eine hohe Zahl von Femiziden zu verzeichnen. Allerdings sei eine hohe Dunkelziffer zu befürchten, weil Frauen und Mädchen im Allgemeinen zögerten, Gewalt anzuzeigen oder Hilfe zu suchen. [...]

Die im angefochtenen Bescheid in diesem Zusammenhang geäußerte Ansicht des Bundesamts, wonach der Klägerin wegen des unehelichen Kindes keine Tötung oder Ächtung durch die Familie drohe, weil sie aus der Millionenstadt Baku komme, in der Männer und Frauen gleichbehandelt würden, teilt das Gericht ausdrücklich nicht, denn sie findet in dieser absoluten Form weder in den vorstehend zitierten Erkenntnismittel noch sonst eine Stütze.

Die Bedrohungslage geht auch von einem Akteur im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. § 3c Nr. 3 AsylG aus. Danach kann die Verfolgung ausgehen von nichtstaatlichen Akteuren, sofern der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens ist, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten. Dabei ist es nicht Sache der Klägerin darzulegen, dass der aserbaidschanische Staat keinen Schutz bieten kann. Vielmehr sind diese Feststellungen, soweit sie auf allgemein verfügbaren Informationen beruhen, Teil der Aufgaben der Asylbehörden und der Gerichte bei der Sachverhaltsfeststellung. [...]

Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnismitteln bestehen insgesamt, vor allem aber in Bezug auf gegen Frauen gerichtete Gewalt hinreichende Anhaltspunkte für die Schutzunwilligkeit der aserbaidschanischen Polizei- und sonstigen Justizbehörden. [...]

Das Problem der Korruption zeigt sich insbesondere im gesamten Bereich der Justiz. Eine unabhängige Justiz gibt es nicht; sie ist korrupt und ineffizient. Auch die Gerichte sind korrupt und funktionieren als Strafmechanismus in den Händen der Exekutive. [...]

In Bezug auf geschlechtsspezifische Gewalt gibt es beispielsweise die Erkenntnis, dass Frauen im Falle von Vergewaltigungen innerhalb der Ehe nicht darauf vertrauen könnten, dass Sicherheitsorgane solchen Behauptungen wirksam nachgingen. Häusliche Gewalt sei ein bemerkenswertes Problem und der damit verbundene Rechtsschutz sei unzureichend. Konservative gesellschaftliche Normen trügen zu der weit verbreiteten Ansicht bei, dass häusliche Gewalt eine Privatangelegenheit sei [...].

Zwar besteht in Aserbaidschan ein Gesetz zu häuslicher Gewalt. Dieses weise aber Mängel auf und enthalte relevante Lücken beim Schutz möglicher Opfer von Verbrechen im Namen der "Ehre". Insbesondere die Polizei reagiere unangemessen. Meldungen über häusliche Gewalt würden nicht registriert oder es werde hierauf nicht reagiert. [...]