VG Magdeburg

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Zitieren als:
VG Magdeburg, Urteil vom 17.05.2022 - 5 A 289/18 MD - asyl.net: M31521
https://www.asyl.net/rsdb/m31521
Leitsatz:

Verschleierung des Fluchtwegs als Indiz für die Unglaubhaftigkeit des Vortrags zu den Fluchtgründen

1. Verschleiert eine schutzsuchende Person bei der Anhörung zur Zulässigkeit ihren Fluchtweg, um einem Dublin-Verfahren zu entgehen, können im Regelfall die von ihr angeführten Fluchtgründe, die zur Ausreise aus dem Heimatland geführt haben, nicht geglaubt werden.

2. Ein Glaukom und eine Opticusatrophie begründen die Gefahr einer Erblindung und stellen eine schwer­wiegende Erkrankung dar, deren medizinische Behandlung in Indien für den Kläger nicht verfügbar ist. Denn die Kapazitäten der öffentlichen und kostenlosen Gesundheitsversorgung sind völlig unzureichend und die finanziellen Mittel für eine private Behandlung hat der Kläger nicht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Indien, medizinische Versorgung, Glaubwürdigkeit, Glaubhaftigkeit, Reiseweg, Angaben zum Reiseweg, persönliches Gespräch, Glaukom, Opticusatropie, Augenerkrankung, medizinische Versorgung, Medikamente,
Normen: AsylG § 3, AsylG § 25 Abs. 1, AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1,
Auszüge:

[...]

12 Die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kommt nicht in Betracht, weil sein Vorbringen zu den behaupteten Asylgründen unglaubhaft ist. Der Kläger macht geltend, er sei von der Polizei verhaftet worden, als diese ihn dabei ertappt habe, wie er gemeinsam mit anderen Plakate für die Khalistan-Bewegung geklebt habe. Auch nach seiner Freilassung habe die Polizei ihn weiter drangsaliert und 2 weitere Male verhaftet. Gegen die Zahlung von Bestechungsgeldern sei er freigekommen. Das Gericht ist davon überzeugt, dass dieser Vortrag frei erfunden ist. Das Gericht glaubt dem Kläger schon nicht, dass er ein Sikh ist. [...]

13 Auch im Übrigen ist der Vortrag des Klägers zu seinen Asylgründen sehr vage geblieben. Die von ihm geschilderten Fluchtgründe sind detailarm und vermitteln nicht den Eindruck einer tatsächlich erlittenen Verfolgung. [...]

14 Ungeachtet dessen ist der Vortrag des Klägers insgesamt unglaubhaft, weil er mit seinen Angaben zur Ausreise und der weiteren Flucht in die Bundesrepublik den Reiseweg bewusst verschleiert hat, um der Beklagten die Möglichkeit zu nehmen, den Kläger auf der Grundlage der Dublin-III Verordnung in einen anderen Staat der Europäischen Union als zuständigen Staat abzuschieben. Der Kläger hat angegeben, er sei über den Flughafen Bengaluru aus Indien ausgereist. Über den Zielflughafen könne er ebenso wie über die weiteren Länder, durch die er gereist sei, nichts sagen. Sie seien "viel unterwegs" gewesen, "durch die Berge" gelaufen und auch "mit dem Boot" gefahren. Das Gericht hält es für abwegig, dass der im Zeitpunkt der Ausreise aus Indien 22 Jahre alte Kläger nicht mitbekommen haben will, auf welchem Flughafen er gelandet und durch welche Drittländer er in die Bundesrepublik gelangt ist. Es ist weder ersichtlich noch schlüssig vorgetragen, weshalb der Kläger nicht in der Lage gewesen sein sollte, zu erfassen, wo das Flugzeug, das erste, dass der Kläger in seinem jungen Leben bestiegen hat, gelandet ist. Ebenso frei erfunden erscheint dem Gericht die Behauptung des Klägers, er habe nicht mitbekommen, durch welche Drittländer er schließlich in die Bundesrepublik gelangt ist. Es ist unglaubhaft, wenn der Kläger den Eindruck vermitteln will, er habe nicht mitbekommen, wo er sich während der 2-monatigen Reise von Indien nach Deutschland aufgehalten und auf welcher Route er in die Bundesrepublik gelangt ist. Sind seine Angaben zum Reiseweg aber schon ersichtlich unwahr, so vermag das Gericht ihm auch seine vermeintliche Verfolgungsgeschichte nicht zu glauben. Denn wer über den Reiseweg täuscht oder ihn verschleiert, weil er eine Abschiebung in den für die Durchführung des Asylverfahrens zuständigen Staat vereiteln und sich einen Aufenthalt in der Bundesrepublik erhalten will, der ihm von Rechts wegen nicht zusteht, dem kann grundsätzlich auch eine behauptete Verfolgung im Heimatland nicht geglaubt werden, weil die zur Sicherung seines Aufenthalts erfolgte Verschleierung des Reiseweges die Annahme nahelegt, dass auch die behauptete Verfolgung im Heimatland letztlich nur dazu dient, sich einen Aufenthalt in der Bundesrepublik zu erhalten und zu verfestigen, ohne dass ihm ein solcher zustünde. [...]

18 Die Klage ist indes begründet, soweit die Beklagte die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 AufenthG abgelehnt hat. [...]

19 Bei der Erkrankung des am … 2008 geborenen Klägers handelt es sich um eine schwerwiegende Erkrankung im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG. Der Kläger litt nach seiner Einreise in die Bundesrepublik unter einer Netzhautblutung rechts, einer Degeneration der Makula und des hinteren Poles links. Wegen dieser Augenleiden wurde ihm ein Grad der Behinderung von 90 zuerkannt (Merkzeichen G und RF). Zwar hat sich sein Gesundheitszustand ausweislich des letzten augenärztlichen Befundberichts des Facharztes für Augenheilkunde ... vom … 2022 nach einer Augenoperation verbessert. [...] Ferner wurde bei dem Kläger nach dem Befundbericht links eine Opticusatrophie festgestellt. Das Glaukom kann zur Erblindung führen. Bei der Opticusatrophie handelt es sich um eine degenerative Erkrankung des Sehnervs die sich durch den Schwund von Nervenzellen auszeichnet. Sie gilt als irreversibel und stellt eine häufige Erblindungsursache dar.

20 Die notwendige medizinische Versorgung für die Augenleiden sind für den Kläger in Indien nicht verfügbar i. S. d. § 60 Abs. 7 Satz 4 AufenthG. Zwar wird die medizinische Grundversorgung in Indien durch den Staat kostenfrei gewährt. Indes ist die medizinische Versorgung durchweg unzureichend. Da der Andrang auf Leistungen des staatlichen Sektors sehr stark ist, weichen viele für eine bessere oder schnellere Behandlung auf private Anbieter aus. In allen größeren Städten Indiens gibt es öffentliche medizinische Einrichtungen, in denen überlebensnotwendige Behandlungen durchgeführt werden können [...]. Im wirtschaftlichen starken Punjab und in New Delhi ist die Gesundheitsversorgung im Verhältnis zu anderen Landesteilen gut. Fast alle gängigen Medikamente auf dem Markt sind zu einem Bruchteil der Preise in Europa erhältlich [...]. Angesichts der gänzlich unzureichenden Kapazität der öffentlichen Gesundheitsversorgung ist eine kostenfreie medizinische Versorgung tatsächlich nicht erreichbar. Das Gericht ist ferner davon überzeugt, dass dem Kläger die notwendigen finanziellen Mittel für eine Behandlung in einer privaten Einrichtung nicht zur Verfügung stehen und er sie sich auch nicht verschaffen kann. Etwaige Ersparnisse oder Mittel aus Förderprogrammen für eine Starthilfe für Rückkehrer (300 € für Erwachsene) wären alsbald nach der Rückkehr aufgezehrt. Weder aus eigenem Erwerbseinkommen noch mit Hilfe seiner Familienangehörigen wird der Kläger den Aufwand für eine weitere Behandlung seiner Augenleiden tragen können. Der Kläger hat nach Abschluss der 8. Klasse als Tagelöhner gearbeitet. Sein Vater arbeitete ebenfalls als Tagelöhner auf Baustellen, sodass nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Erwerbstätigkeit die Bildung auskömmlicher Rücklagen für die notwendigen ärztlichen Behandlungen zulässt. [...]