VG Gießen

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Zitieren als:
VG Gießen, Urteil vom 28.04.2023 - 3 K 2214/19.GI.A (Asylmagazin 6/2023, S. 213 ff.) - asyl.net: M31514
https://www.asyl.net/rsdb/m31514
Leitsatz:

Flüchtlingsanerkennung für Person aus dem Iran wegen exilpolitischer Aktivitäten:

1. Die ohnehin verbreiteten und schwerwiegenden staatlichen Repressionen gegen oppositionelle Aktivitäten im Iran haben sich seit September 2022 weiter verstärkt. Zwischen September 2022 und Februar 2023 wurden fast 550 Demonstrierende getötet und fast 20 000 inhaftiert. Todesurteilen werden verhängt und teils auch vollstreckt.

2. Aktivitäten in den sozialen Medien werden von iranischen Behörden überwacht, und es kommt auch bei Verurteilungen wegen Äußerungen in den sozialen Medien zu unverhältnismäßig hohen Strafen.

3. Die ohnehin eher schlechten Haftbedingungen im Iran sind für politische Häftlinge noch deutlich schlechter. Es drohen physische und psychische Folter, Isolationshaft, Misshandlungen und sexuelle Übergriffe.

4. Der Kläger dürfte den iranischen Sicherheitsbehörden aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten (Teilnahme an Demonstrationen, Aktivitäten in sozialen Medien, Interview mit prominenten Journalisten) aufgefallen sein, sodass ihm bei einer Rückkehr in den Iran politische Verfolgung droht.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Iran, politische Verfolgung, Exilpolitik, Soziale Medien, Demonstrationen, Haftbedingungen, Nachfluchtgründe, subjektive Nachfluchtgründe, Änderung der Sachlage,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 1, AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 28 Abs. 1a
Auszüge:

[...]

Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit besteht für den Kläger - jedenfalls mittlerweile - unter Berücksichtigung seiner glaubhaften Ausführungen zur jüngsten Ausweitung seiner gegen die Politik des iranischen Staates gerichteten Aktivitäten.

Auch wenn staatliche Repressionen gegen jegliche Aktivität, die als Angriff auf das politische System empfunden wird oder islamische Grundsätze in Frage stellt, ohnehin besonders schwerwiegend und verbreitet sind (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran vom 30. November 2022, Stand: 18. November 2022 [nachfolgend: AA, Lagebericht 11/2022], S. 9), dürfte diese allgemeine Gefahrenlage gegenwärtig weiter erhöht sein. Im Iran kam es auf den Tod der Mahsa Amini Mitte September hin zu den größten Protesten seit Jahren, die auch noch weiterhin anhalten. Laut Menschenrechtsaktivisten sind bis Februar 2023 fast 550 Demonstranten und Demonstrantinnen getötet und fast 20.000 inhaftiert worden. Von den Festgenommenen wird von Folter berichtet; Todesurteile werden gegen Einzelne ausgesprochen und teils auch vollstreckt [...]. Wichtiger Bestandteil der aktuellen Protestbewegung als Instrument der Mobilisierung und als Form des Protests sind die sozialen Medien, wobei entsprechende Aktivitäten von den iranischen Behörden überwacht und verfolgt werden; Verhaftungen finden deswegen Berichten zufolge häufig nicht auf den Straßen statt, sondern ein oder zwei Tage später zu Hause [...]. Insbesondere bei politisch motivierten Verfahren gegen Oppositionelle erfolgt die Anklage oft aufgrund konstruierter und vorgeschobener Straftaten. Die Strafen sind in Bezug auf die vorgeworfene Tat oft unverhältnismäßig hoch, besonders auch bei Verurteilungen wegen Äußerungen in sozialen Medien, und die ohnehin eher schlechten Haftbedingungen sind für politische Häftlinge nochmals deutlich schlechter. Es drohen eine Verletzung der körperlichen und mentalen Unversehrtheit (physische und physische Folter, Isolationshaft als Form der Bestrafung, Misshandlung, sexuelle Übergriffe) (AA, Lagebericht 11/2022, S. 10, 17).

Vorliegend geht das Gericht allerdings nicht schon davon aus, dass dem Kläger allein wegen seiner früheren politischen Aktivitäten in seinem Heimatland dort im Falle einer Rückkehr politische Verfolgung drohen würde. Er ist durch seine kritische Haltung zum Islam zwar bereits in seinem Herkunftsdorf aufgefallen und seine spätere Teilnahme an Demonstrationen gegen die Regierungspolitik in ... ist zumindest in einem Fall auch aktenkundig geworden. Ein erkennbares Verfolgungsinteresse des iranischen Staates ist jedoch - wie im angegriffenen Bescheid dargelegt - weder unmittelbar im Anschluss an die Demonstrationsteilnahmen noch in zeitlicher Nähe zu seiner Ausreise ersichtlich geworden. [...]

Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG jedoch auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat. Iranerinnen und Iranern, die im Ausland leben und sich dort öffentlich regimekritisch äußern, sind von Repressionen bedroht (nicht nur), wenn sie in den Iran zurückkehren (AA, Lagebericht 11/2022; BFA, Proteste, S. 3). Dabei sind insbesondere regimekritische Social Media-Inhalte auch innerhalb der iranischen Diaspora weit verbreitet und können Reaktionen des iranischen Regimes auslösen. Besonders prominenten Exiloppositionellen, Bloggern, Journalisten etc. droht Verschleppung aus dem Ausland in den Iran. Kritikerinnen und Kritiker haben Drohbotschaften erhalten (BFA, Proteste, S. 3 f., siehe auch AA, Lagebericht 11/2022, S. 11, 17 f., 19). Auch könne eine intensivere Überprüfungspraxis bei der Einreise jedenfalls nicht ausgeschlossen werden (jüngst etwa AA, Lagebericht 11/2022, S. 25).

Im Falle des Klägers sind flüchtlingsschutzrechtlich bedeutsame Repressionen - auf Grundlage seines glaubhaften Vorbringens zu seinen exilpolitischen Aktivitäten - für das Gericht beachtlich wahrscheinlich. Zwar dürfte insoweit eine umfassende Beobachtung, jedenfalls aber eine umfassende Verfolgung der seit September 2022 deutlich erweiterten - und auch in Deutschland durch zahlreiche (Massen-)Demonstrationen und umfangreiche Sozial Media-Aktivitäten unterstützten - Proteste gegen das iranische Regime schon aus Ressourcengründen ausgeschlossen sein. Der Kläger dürfte jedoch aufgrund seiner exilpolitischen Aktivitäten, jedenfalls in ihrer Zusammenschau, für die iranischen Sicherheitsbehörden eine besondere Sichtbarkeit und eine besondere Relevanz erlangt haben [...].

Das Gericht erachtet es für beachtlich wahrscheinlich, dass dieser den iranischen Behörden aufgrund seiner Beteiligung an Protesten in Deutschland bereits aufgefallen ist oder im Rahmen einer auch im Nachgang weiterhin möglichen Auswertung vorhandener Information bzw. seiner bisherigen Social Media-Aktivität auffallen wird. An zahlreichen Demonstrationen gegen das iranische Regime in Deutschland hat er selbst teilgenommen, wenngleich ihm hierbei keine Organisatorenrolle zugekommen ist und er nur vereinzelt - nämlich bei einer Demonstration in Frankfurt als einer der Parolenansager - besondere Aufgaben übernommen hat. Auch sein Instagramprofil verrät weder eine ungewöhnlich hohe Vernetzung noch finden sich dort - nach Angaben des Klägers aus Rücksichtnahme auf seine Familie im Iran - besonders relevante politische Inhalte aus jüngerer Zeit. Ein weiterer, für das Gericht maßgeblicher, Anhaltspunkt für eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit besteht aber im Auftritt des Klägers im Instagram-Livestream des iranischstämmigen Journalisten ..., der gegenwärtig 216.000 Follower hat und für ein Webangebot des ... tätig ist, das sich gezielt an Geflüchtete richtet und dessen Inhalte (unter anderem) in Farsi bereitgestellt werden. Das Gericht hält es nach den oben benannten Quellen für sehr wahrscheinlich, dass der iranische Staat das Wirken dieses Journalisten verfolgt. [...]