VG Potsdam

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Zitieren als:
VG Potsdam, Urteil vom 21.04.2023 - 16 K 2790/17.A - asyl.net: M31512
https://www.asyl.net/rsdb/m31512
Leitsatz:

Tschetschen*innen können in der Russischen Föderation grundsätzlich internen Schutz finden:

1. Wird eine Person wiederholt von tschetschenischen Sicherheitskräften entführt, gefoltert, verhört und bedroht, weil ihr unterstellt wird, Separatisten zu unterstützen, so reicht das für die Annahme einer landesweiten Verfolgung nicht aus. Denn Personen, an denen föderale russische Behörden kein besonderes Verfolgungsinteresse haben, die nicht persönlich in das Visier Kadyrows geraten sind und nicht zu einer Haftstrafe verurteilt oder zur Fahndung ausgeschrieben wurden, können in anderen Teilen der Russischen Föderation gemäß § 3e AsylG internen Schutz finden.

2. Die Diskriminierung tschetschenischer Personen in der Russischen Föderation geht nicht so weit, dass es gesunden, arbeitsfähigen Menschen nicht zumutbar wäre, sich dort niederzulassen.

3. Männern, die das wehrpflichtige Alter überschritten haben, droht grundsätzlich keine Einberufung zum Militärdienst.

4. Auch von Wehrpflichtigen wird nur etwa die Hälfte tatsächlich zum Militärdienst einberufen. Normalen Wehrdienstleistenden droht kein Einsatz in der Ukraine und kein Druck, sich "freiwillig" dazu zu verpflichten.

5. Die tschetschenischen Behörden gehen zwar bei der Einberufung für den Krieg in der Ukraine besonders rüde vor, aber auch insofern besteht eine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e Abs. 1 AsylG.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Tschetschenen, Russische Föderation, Militärdienst, interne Fluchtalternative, Ukrainekrieg, Einziehung, Tschetschenien, Zwangsrekrutierung,
Normen: AsylG § 3 Abs. 1, AsylG § 3e Abs. 1, AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 5,
Auszüge:

[...]

In Anwendung dieses Maßstabs kann dahinstehen, ob die Kläger in unmittelbarem Zusammenhang mit der Ausreise in dem nach §§ 3 Abs. 1, 3a Abs. 1 AsylG erforderlichen Ausmaß verfolgt wurden. Denn ihnen steht nach Maßgabe der nachfolgenden Ausführungen jedenfalls eine inländische Fluchtalternative nach § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. [...]

Nach diesen Maßgaben besteht im Falle des Klägers zu 1. und damit erst recht im Falle der Kläger zu 2. bis 6. außerhalb Tschetscheniens keine begründete Furcht vor Verfolgung (§ 3e Abs. 1 Nr. 1 AsylG). [...]

Von einem aus Sicht der föderalen Sicherheitsbehörden bestehenden Interesse, den Kläger zu 1. in anderen Teilen der Russischen Föderation festzunehmen, ist nicht auszugehen. Die Ausführungen der Kläger lassen bereits keine Verfolgung durch eine regionale Stelle des FSB oder andere föderale Behörden erkennen. Vielmehr deuten ihre Ausführungen auf örtliche tschetschenische Sicherheitsbehörden hin. Unabhängig davon ist es auch unwahrscheinlich, dass der Kläger zu 1. nunmehr in anderen Teilen der Russischen Föderation mit Festnahmen durch föderale Behörden zu rechnen hat, denn er ist weder ein bekannter, hochrangiger noch in die Begehung oder Planung schwerwiegender Straftaten eingebundener Separatist oder Islamist, an dem eine föderale Behörde der Russischen Föderation landesweit ein besonderes Verfolgungsinteresse haben könnte (dazu sogleich im Einzelnen).

Mangels Verfolgungsinteresse, geschweige denn besonderem Verfolgungsinteresse, ist auch nicht damit zu rechnen, dass die föderalen oder lokalen russischen Behörden den Kläger zu 1. auf Ersuchen der tschetschenischen Sicherheitsbehörden festnehmen und anschließend nach Tschetschenien überstellen werden oder dass es zu inoffiziellen Festnahmen oder Übergriffen durch tschetschenische Kräfte außerhalb Tschetscheniens kommen wird.

Dafür, dass der Kläger zu 1. persönlich ins Visier von Kadyrow geraten ist, und aus diesem Grunde aus der Russischen Föderation ausgereist ist, sind Tatsachen weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Des Weiteren ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Kläger zu 1. bereits wegen einer Straftat verurteilt wurde und die Strafe noch nicht angetreten hat.

Wie soeben bereits im Ansatz ausgeführt, gehört der Kläger zu 1. auch nicht zur Gruppe der Personen, die besonders gefährdet sind, weil sie glaubhaft verdächtigt werden, selbst Terroristen oder aktive Unterstützer des Terrorismus zu sein. Den Ausführungen der Kläger zufolge wurde der Kläger zu 1. zwar wiederholt mitgenommen und daraufhin geschlagen, gefoltert, verhört, erpresst und bedroht. Zudem wurde ihm unterstellt, Separatisten zu unterstützen. Dies reicht für die Annahme eines landesweiten Verfolgungsinteresses jedoch nicht aus. [...]

Dem Vortrag des Klägers zu 1. ist auch nicht zu entnehmen, dass er einer Straftat angeklagt ist, aber noch nicht verurteilt wurde. Der Erlass eines Haftbefehls ist ebenfalls weder vorgetragen noch sonst ersichtlich.

Auch ist weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der Kläger zu 1. zur Fahndung in Tschetschenien oder in anderen Teilen der Russischen Föderation ausgeschrieben ist. [...]

Es ist nach der derzeitigen Erkenntnislage zum entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass die Kläger zu 1. und 3. bei einer Rückkehr in die Russische Föderation außerhalb Tschetscheniens mit einer Einziehung zum Militärdienst und anschließender Teilnahme an dem völkerrechtswidrigen Krieg in der Ukraine rechnen müssen.

Eine Einberufung der Kläger zu 1. und 3. ist weder mit Blick auf die in der Russischen Föderation ausgerufene Teilmobilmachung noch aufgrund einer bestehenden Wehrpflicht beachtlich wahrscheinlich. [...]

Der Kläger zu 1. unterfällt als ungedienter ehemaliger Wehrpflichtiger Art. 52 Abs. 1 Unterabs. 7, nach dem Personen, die den Wehrdienst ohne rechtlichen Grund nicht abgeleistet haben, bei Erreichen des 27. Lebensjahres zur Reserve gehören.

Der Kläger zu 3. unterfällt als Wehrdienstpflichtiger, der noch keinen Wehrdienst geleistet hat, nicht der Norm. Demgemäß ist er nicht von dem Dekret des Präsidenten der Russischen Föderation vom 21. September 2022 erfasst.

Auch wenn damit formal betrachtet die Einziehung des Klägers zu 1. als Reservisten auf Seiten der russischen Streitkräfte im Rahmen des Angriffskrieges gegen die Ukraine möglich ist und selbst wenn unterstellt wird, dass auch der Kläger zu 3. als Reservist eingezogen werden kann, besitzen bei umfassender Würdigung der einschlägigen Erkenntnisse die gegen eine Einziehung zum Kriegsdienst sprechenden Umstände ein größeres Gewicht und überwiegen die für eine Einberufung sprechenden Tatsachen. [...]

Es liegen auch keine belastbaren Anhaltspunkte dafür vor, dass trotz Verkündung des Endes der Teilmobilisierung weiterhin außerhalb Tschetscheniens eine Massenmobilisierung stattfindet und Reservisten flächendeckend in einem Ausmaß verdeckt rekrutiert werden, welches im Falle der Kläger zu 1. und 3. eine Einberufung zum Kriegsdienst beim russischen Militär beachtlich wahrscheinlich macht [...].

Zum derzeitigen Zeitpunkt kann eine weitere Massenmobilisierung für die Zukunft zwar nicht ausgeschlossen werden. [...]

Gleichwohl fehlt es insoweit an einer hinreichend belastbaren Tatsachengrundlage. [...]

Der Kläger zu 3. unterfällt zwar der regulären Wehrpflicht.

Es ist aber nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 3. - sofern er überhaupt zum Wehrdienst herangezogen werden sollte - in der Ukraine eingesetzt wird.

Zu berücksichtigen ist, dass von den jährlich ca. 1,2 Millionen der Wehrpflicht unterfallenden Männern lediglich die Hälfte die Aufforderung erhält, sich bei den örtlichen Einberufungsämtern zum Zwecke der Musterung zu melden [...].

Selbst wenn zu Gunsten des Klägers zu 3. unterstellt wird, dass er zur Musterung geladen wurde, ist zu berücksichtigen, dass von den Wehrpflichtigen nur jeder Vierte bis Fünfte tatsächlich eingezogen wird. [...]

Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass Grundwehrdienstleistende weiterhin im Rahmen ihrer Wehrpflicht in der Ukraine und somit für den russischen Angriffskrieg eingesetzt werden [...].

Dies allein genügt jedoch nicht für eine Prognoseentscheidung zu Gunsten des Klägers zu 3. [...]

Es ist auch nicht beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger zu 3. während eines etwaigen Dienstes als Wehrpflichtiger dazu gezwungen wird, sich als Vertragssoldat zu verpflichten.

Es existieren zwar Medienberichte über die Nötigung von Grundwehrdienstleistenden zum Abschluss eines Vertrags über die "freiwillige" Teilnahme an der sogenannten "Sonderoperation". [...]

Es ist auch nicht im Ansatz ersichtlich, dass Kadyrow, der in Tschetschenien Kämpfer in einer allgemeinen Atmosphäre des Zwanges und unter Verletzung von Menschenrechtsstandards rekrutiert, selbst Kämpfer landesweit rekrutieren lässt und daher auch auf Personen zugreifen würde, die - wie die Kläger zu 1. und 3. - internen Schutz in anderen Teilen der Russischen Föderation in Anspruch nehmen können [...].

Die Kläger können auch sicher und legal in andere Landesteile reisen. Es ist davon auszugehen, dass sie dort aufgenommen werden (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG). [...]

Von den Klägern kann vernünftigerweise auch erwartet werden, dass sie sich in anderen Landesteilen der Russische Föderation niederlassen (§ 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG).

Die Frage der Zumutbarkeit der Niederlassung erfordert eine umfassende wertende Gesamtbetrachtung der allgemeinen wie der individuellen Verhältnisse unter Berücksichtigung der in § 3e Abs. 2 Satz 1 AsylG genannten Dimensionen. [...]

Die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel [...] sprechen dafür, dass die Niederlassung in anderen Landesteilen der Russischen Föderation unter Würdigung der allgemeinen Gegebenheiten und unter Berücksichtigung der persönlichen Umstände der Kläger zumutbar ist.

Die Kläger zu 1. und 2. werden in der Lage sein, ihren Lebensunterhalt als auch den der Kläger zu 4. bis 6. und der weiteren, minderjährigen Kinder ... und ... durch eigene Arbeit, gegebenenfalls in Verbindung mit Sozialbeihilfen und möglicher Unterstützung durch Familienangehörige im Umfang des Existenzminimums zu bestreiten. Auch der Kläger zu 3. wird im Stande sein, seinen Lebensunterhalt zu sichern. [...]