OVG Saarland

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Zitieren als:
OVG Saarland, Beschluss vom 01.09.2022 - 2 B 154/22 - asyl.net: M31505
https://www.asyl.net/rsdb/m31505
Leitsatz:

Falsche Fiktionsbescheinigung begründet keine Fiktionswirkung:

"1. Die Erlaubnis- bzw. Fortgeltungsfiktion nach § 81 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 Satz 1 AufenthG tritt nur ein, wenn der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis während eines rechtmäßigen Aufenthalts des Ausländers gestellt wird (Rn.8).

2. Eine entgegen der Rechtslage ausgestellte Fiktionsbescheinigung kann die Wirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht konstitutiv hervorrufen, weil sie unrichtig ist. Insofern ist auf die tatsächliche, durch das Gesetz vermittelte Rechtslage zurückzugreifen. Der Ausländer kann sich daher nicht mit Erfolg auf einen "Vertrauensschutz" auf den Bestand der ihm zu Unrecht erteilten Fiktionsbescheinigung berufen (Rn.8).

3. Weder die Ausländerbehörde noch die Verwaltungsgerichte sind bei ihrer Gefahrenprognose an die Entscheidung des Strafgerichts über die Aussetzung der Vollziehung der Strafe und die dabei getroffene Einschätzung gebunden. Vielmehr haben die zuständigen Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte eine eigenständige Prognose über die Wiederholungsgefahr zu treffen (Rn.10)."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Ausweisung, Gefahrenprognose, Prognose, Wiederholungsgefahr, Fiktionswirkung,
Normen: AufenthG § 81 Abs. 3 S. 1, AufenthG § 81 Abs. 4 S. 1, StGB § 57 Abs. 1, AufenthG § 53 Abs. 1,
Auszüge:

[...]

8 Der Durchsetzung seiner Ausreisepflicht kann der Antragsteller zunächst nicht mit Erfolg die Regelungen der §§ 81 Abs. 3 Satz 1 und 81 Abs. 4 AufenthG entgegenhalten. Zwar ist eine Ausreisepflicht im Sinne des § 50 Abs. 1 AufenthG nicht gegeben, wenn zugunsten des antragstellenden Ausländers die Fiktionswirkung nach § 81 Abs. 3 Satz 1 oder Abs. 4 Satz 1 AufenthG greift. Der § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG bestimmt, dass der Aufenthalt eines Ausländers, der sich rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, ohne einen Aufenthaltstitel zu besitzen, bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als erlaubt gilt, wenn der Ausländer die Erteilung eines Aufenthaltstitels beantragt. Beantragt ein Ausländer vor Ablauf seines Aufenthaltstitels dessen Verlängerung oder die Erteilung eines anderen Aufenthaltstitels, gilt der bisherige Aufenthaltstitel vom Zeitpunkt seines Ablaufs bis zur Entscheidung der Ausländerbehörde als fortbestehend (§ 81 Abs. 4 Satz 1 AufenthG). Die Erlaubnis- bzw. Fortgeltungsfiktion tritt demnach nur ein, wenn der Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis während eines rechtmäßigen Aufenthalts des Ausländers gestellt wird. Diese Voraussetzung ist im Fall des Antragstellers ersichtlich nicht erfüllt. Zum Zeitpunkt der Beantragung der Aufenthaltserlaubnis am 12.4.2019, um die eheliche Lebensgemeinschaft mit seiner deutschen Ehefrau, die er bereits am 15.6.2015 geheiratet hatte, herstellen zu können, war der Aufenthalt des Antragstellers in Deutschland nicht rechtmäßig. Denn er war am 14.3.2019 ohne das gemäß § 5 Abs. 2 i.V.m. § 6 Abs. 3 AufenthG für die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis erforderliche Visum zum Ehegattennachzug (erneut) eingereist, nachdem sein Asylantrag mit bestandskräftigem Bescheid vom 10.3.2015 als offensichtlich unbegründet abgelehnt worden war. Aus dem Umstand, dass ihm in diesem Zusammenhang am 12.4.2019 – entgegen der Rechtslage - gleichwohl eine bis zum 12.7.2019 gültige Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 3 AufenthG ausgestellt worden war, kann der Antragsteller nichts zu seinen Gunsten herleiten. Das Verwaltungsgericht hat hierzu bereits unter Zitierung der einschlägigen Rechtsprechung und Gesetzeskommentierungen (BVerwG, Urteil vom 3.6.1997 - 1 C 7/96 = NVwZ 1998, 185 (187); Samel, in: Bergmann/Dienelt, AuslR (13. Auflage 2020), § 81 AufenthG Rn. 45; Kluth, in: BeckOK AuslR (Stand: 1.10.2020), § 81 AufenthG Rn. 44) zutreffend festgestellt, dass diese von dem Antragsgegner ausgestellte Fiktionsbescheinigung die Wirkung des § 81 Abs. 3 Satz 1 AufenthG nicht konstitutiv hervorrufen konnte, weil sie unrichtig war. Insofern ist auf die tatsächliche, durch das Gesetz vermittelte Rechtslage zurückzugreifen, wonach vorliegend keine Fiktionswirkung eintreten konnte. Der Antragsteller kann sich daher auch nicht mit Erfolg auf einen "Vertrauensschutz" auf den Bestand der ihm zu Unrecht erteilten Fiktionsbescheinigung berufen.

9 Sein Einwand, es sei nicht nachvollziehbar, dass das Verwaltungsgericht zu dem Ergebnis gelangt sei, dass auch nach seiner Haftentlassung ein erhebliches Wiederholungsrisiko für weitere Straftaten bestehe, verfängt nicht. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist (vgl. BVerwG, Urteil vom 4.10.2012 - 1 C 13/11 -, BVerwGE 144, 230-243; zitiert nach juris; BayVGH, Beschluss vom 16.3.2016 - 10 ZB 15.2109 -; juris). Die Ausweisungsverfügung des Antragsgegners vom 23.9.2021 ist auf eine umfassende Gefahrenprognose unter Berücksichtigung sämtlicher Einzelfallumstände gestützt, auf deren Grundlage das Verwaltungsgericht bei der wertenden Gesamtbetrachtung zutreffend zu der Einschätzung gelangt ist, dass vom Antragsteller angesichts der Tatsache, dass er sich über mehrere Jahre hinweg auch von der Verhängung empfindlicher Freiheitsstrafen nicht davon hat abhalten lassen, weitere schwerwiegende Straftaten zu begehen, mit denen angesichts der Banden- und gewerbsmäßigen Begehungsweise ein hohes Wiederholungsrisiko verknüpft ist, auch gegenwärtig eine erhebliche Gefahr ausgeht.

10 Seine - offensichtlich rein prozesstaktisch motivierten – Beteuerungen und Absichtserklärungen, von ihm gehe keine konkrete Gefahr weiterer Straffälligkeit mehr aus, da er durch die Verbüßung der Haftstrafe geläutert sei und künftig keine Straftaten mehr begehen wolle, sind ungeeignet, um die begründete Annahme einer konkreten Gefahr weiterer Straffälligkeit zu entkräften. Auch sein Hinweis auf den Beschluss des Landgerichts ... vom 11.1.2022, mit dem die Vollstreckung seiner Reststrafen nach Maßgabe des § 57 Abs. 1 StGB mit Wirkung vom 13.3.2022 für die Dauer von drei Jahren zur Bewährung ausgesetzt worden ist, steht der Annahme einer Gefahr der Begehung weiterer Straftaten durch den Antragsteller nicht entgegen. Weder die Ausländerbehörde noch die Verwaltungsgerichte sind bei ihrer Gefahrenprognose an die Entscheidung des Strafgerichts über die Aussetzung der Vollziehung der Strafe und die dabei getroffene Einschätzung gebunden (st. Rsprg. des Senats, vgl. nur Beschluss vom 25.9. 2019 – 2 A 284/18 –, m.w.Nw.; juris). [...]