OVG Nordrhein-Westfalen

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Zitieren als:
OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 22.03.2023 - 11 A 1086/21.A (Asylmagazin 6/2023, S. 215 f.) - asyl.net: M31498
https://www.asyl.net/rsdb/m31498
Leitsatz:

Systemische Mängel im Aufnahmesystem Italiens bei Verlust des Unterkunftsanspruchs und wegen Weigerung der (Wieder-)Aufnahme:

1. Der Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, wonach Dublin-Rückkehrenden, die in Italien bereits einen Asylantrag gestellt haben, bei Weiterreise ihren Unterkunftsanspruch verlieren, sodass ihnen bei Rückkehr Obdachlosigkeit und damit die Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GR-Charta/Art. 3 EMRK droht.

2. Die Zuständigkeit Deutschlands dürfte auch deshalb bestehen, weil die italienischen Behörden ausweislich der Informationsschreiben vom 5. und 7. Dezember 2022 "zeitlich befristet", jedoch ohne Nennung eines konkreten Enddatums, eine (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden nach Maßgabe der Dublin-III-VO wegen "technischer Gründe" und "fehlender Aufnahmekapazitäten" ablehnen.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.04.2023 - 10 LA 48/23 - asyl.net: M31487; unter Bezug auf: OVG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 20.07.2021 - 11 A 1674/20.A - asyl.net: M29879)

Schlagwörter: Italien, Dublinverfahren, Dublin III-Verordnung, systemische Mängel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung, Obdachlosigkeit,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, VO 604/2013 Art. 3 Abs. 2, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

3. Die Bundesrepublik Deutschland ist jedoch gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 3 Dublin III-VO zuständig geworden. Danach wird der die Zuständigkeit prüfende Mitgliedstaat der zuständige Mitgliedstaat, wenn keine Überstellung gemäß diesem Absatz an einen aufgrund der Kriterien des Kapitels III bestimmten Mitgliedstaat vorgenommen werden kann.

Diese Voraussetzungen sind erfüllt, weil die Zuständigkeit Italiens für die Durchführung des Asylverfahrens des Klägers gemäß Art. 3 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO entfällt. [...]

aa. Dem Kläger droht zur Überzeugung des Senats (§ 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO) für den Fall seiner Rücküberstellung nach Italien die ernsthafte Gefahr einer erniedrigenden Behandlung i. S. d. Art. 4 GRCh oder Art. 3 EMRK. Der Senat ist davon überzeugt, dass der Kläger in Italien unabhängig von seinem Willen und seinen persönlichen Entscheidungen in eine Situation extremer materieller Not geraten wird, in der er seine elementarsten Bedürfnisse ("Bett, Brot, Seife") nicht wird befriedigen können. Denn es besteht die ernsthafte Gefahr, dass der Kläger bereits keinen Zugang zu einer menschenwürdigen Unterkunft erhält.

(1) Mit Urteil vom 20. Juli 2021 hat der Senat entschieden, dass ein Kläger, der - wie der Kläger im vorliegenden Fall - vor seiner Antragstellung in Deutschland einen Asylantrag in Italien gestellt hat, im Falle einer im Rahmen des Dublin-Verfahrens erfolgenden Rücküberstellung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen Zugang zu einer Aufnahmeeinrichtung und der damit verbundenen Versorgung haben wird, wenn die Voraussetzungen des Art. 23 Nr. 1 a oder b der Gesetzesverordnung ("decreto legislativo") Nr. 142/2015 vom 18. August 2015 (im Folgenden: Gesetzesverordnung Nr. 142/2015) vorliegen. [...]

An dieser Rechtsprechung hält der Senat fest [...].

(a) Eine andere Bewertung ist nicht unter Berücksichtigung der von der Beklagten im Oktober 2022 in verschiedenen Parallelverfahren übersandten Unterlage "Gemeinsamer Bericht des Auswärtigen Amtes, des Bundesministeriums des Innern und für Heimat und des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge" gerechtfertigt. Daraus ergibt sich bereits nicht, dass Art. 23 Nr. 1 a und b der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015 keine Geltung mehr hätte oder auf Dublin-Rückkehrer keine Anwendung finden würde. [...]

(2) Für den Kläger, der in Italien einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, folgt aus der Rechtsprechung des Senats, dass er im Falle seiner Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit keinen staatlichen Unterbringungsplatz erhält. Der Senat teilt nicht die Auffassung des Verwaltungsgerichts, der Kläger sei "aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls wie ein Asylsuchender zu behandeln, der in Italien bisher keinen Antrag gestellt" habe. [...] Angesichts des "aufgrund der vorliegenden Eurodac-Treffermeldungen" für 2016 und 2018 "und der Auskunft des italienischen Innenministeriums vom 19. Oktober 2020" auch zur Überzeugung des Verwaltungsgerichts festgestellten Umstands, dass er in Italien einen Asylantrag gestellt hat, steht aber fest, dass er bereits bei seinem ersten Aufenthalt in Italien registriert worden ist und damit schon damals Zugang zum Aufnahmesystem einschließlich einer Zuweisung in eine Unterbringungseinrichtung bekommen haben muss (vgl. zur Situation von Personen, die Italien - wie der aus Libyen kommende Kläger - im Jahr 2016 erreicht haben: OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 82 ff., m. w. N.) mit der Folge, dass der Kläger sein Recht auf Unterbringung in Italien verloren hat. [...]

Mit Blick auf die vorstehenden Feststellungen erscheint es ausgeschlossen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr bei der für ihn zuständigen Questura bzw. Präfektur mit Erfolg einen Anspruch auf (Wieder-) Aufnahme in eine Unterkunft geltend machen oder in absehbarer Zeit gerichtlich durchsetzen könnte (vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 92 ff., m. w. N.).

(3) Abgesehen davon, dass dem Kläger bereits mit dem Verlust des Rechts auf Unterbringung die Möglichkeit genommen ist, sich in Italien im Falle seiner Rückkehr mit den elementarsten Bedürfnissen zu befriedigen (vgl. i. d. S. EuGH, Urteil vom 1. August 2022 - C 422/21 -, juris, für den Fall des Entzugs der Unterkunft infolge einer Sanktion nach Art. 23 Nr. 1 e der Gesetzesverordnung Nr. 142/2015), ist auch nicht zu erwarten, dass der Kläger außerhalb der staatlichen Aufnahmeeinrichtungen eine menschenwürdige Unterkunft findet (vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 102 ff., m. w. N.) oder sich in absehbarer Zeit aus eigenen durch Erwerbstätigkeit zu erzielenden Mitteln mit den für ein Überleben notwendigen Gütern versorgen könnte (vgl. hierzu OVG NRW, Urteil vom 20. Juli 2021 - 11 A 1689/20.A -, juris, Rn. 110 ff., m. w. N.).

bb. Eine Zuständigkeit Deutschlands für die Bearbeitung des Asylgesuchs des Klägers dürfte im maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Senats über die oben getroffenen Feststellungen hinaus auch deshalb bestehen, weil eine Überstellung des Klägers an Italien derzeit nicht möglich ist.

Die italienischen Behörden lehnen ausweislich der Informationsschreiben des italienischen Innenministeriums vom 5. und 7. Dezember 2022 "zeitlich befristet", jedoch ohne Nennung eines konkreten Enddatums, eine (Wieder-)Aufnahme von Schutzsuchenden nach Maßgabe der Dublin-III VO unter Berufung auf "technische Gründe" und "fehlende Aufnahmekapazitäten" ab. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass Italien Dublin-Rückkehrende überhaupt oder in absehbarer Zeit wieder aufnimmt, liegen nicht vor (vgl. hierzu etwa VG Arnsberg, Urteil vom 24. Januar 2023 - 2 K 3582/22.A -, nachgehend OVG NRW, Beschluss vom 16. März 2023 - 11 A 252/23.A -, juris; VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 28. Februar 2023 - 1a L 180/23.A -, juris).

Mit Blick darauf dürfte davon auszugehen sein, dass die italienischen Behörden die Wiederaufnahme des Klägers verweigern oder, selbst wenn seine Einreise nach Italien durchgeführt würde, aufgrund der dort "fehlenden Aufnahmekapazitäten" jedenfalls die Befriedigung seiner elementarsten Bedürfnisse nicht gewährleistet wäre. [...]