VG Münster

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Zitieren als:
VG Münster, Urteil vom 03.04.2023 - 9 K 3723/21.A - asyl.net: M31489
https://www.asyl.net/rsdb/m31489
Leitsatz:

Abschiebungsverbot für junge Frau aus Somalia:

1. Aufgrund der systematischen Benachteiligung von Frauen in der somalischen Gesellschaft, der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse, sowie der Ernährungsunsicherheit ist die Sicherung des Existenzminimums in Somalia besonders herausfordernd.

2. Es ist nicht zu erwarten, dass die Klägerin als alleinstehende und damit besonders vulnerable Frau ihr Existenzminimum wird sicherstellen können.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Somalia, Frauen, alleinstehende Frauen, Abschiebungsverbot, Existenzminimum, Al Shabaab, vulnerabel
Normen: EMRK Art. 3, AufenthG § 60 Abs. 5
Auszüge:

[...]

Die Klägerin hat jedoch einen Anspruch gegen die Beklagte auf die - weiter hilfsweise geltend gemachte - Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG im Hinblick auf den Zielstaat Somalia. [...]

Frauen haben in der somalischen Gesellschaftsstruktur nicht dieselbe Position inne wie ein gleichaltriger Mann. Frauen werden in der somalischen Gesellschaft, in der Politik und in den Rechtssystemen systematisch Männern untergeordnet. Sie genießen nicht die gleichen Rechte wie Männer und werden systematisch benachteiligt. Frauen leiden unter Diskriminierung bei Kreditvergabe, Bildung, Politik und Unterbringung. Sowohl im Zuge der Anwendung der Scharia als auch bei der Anwendung traditionellen Rechtes sind Frauen nicht in Entscheidungsprozesse eingebunden. Entsprechend gelten für Frauen andere gesetzliche Maßstäbe als für Männer (z.B. halbe Erbquote). Die von Männern dominierte Gesellschaft und ihre Institutionen gestatten es somalischen Männern, Frauen auszubeuten. Verbrechen an Frauen haben nur geringe oder gar keine Konsequenzen. Gemäß einer aktuellen Studie zum Gender-Gap in Süd-/Zentralsomalia und Puntland verfügen Frauen dort nur über 50 % der Möglichkeiten der Männer - und zwar mit Bezug auf Teilnahme an der Wirtschaft, wirtschaftliche Möglichkeiten, Politik und Bildung. Prinzipiell gestaltet sich die Rückkehr für Frauen zudem schwieriger als für Männer. Eine Rückkehrerin ist auf die Unterstützung eines Netzwerks angewiesen, das in der Regel enge Familienangehörige - geführt von einem männlichen Verwandten - umfasst. Für alleinstehende Frauen ist es mitunter schwierig, eine Unterkunft zu mieten oder zu kaufen. Sie haben hinsichtlich Einkommensmöglichkeiten eine eingeschränkte Auswahl. Von Frauen abgehaltene Workshops (z.B. Schneiderei-, Henna- und Kochkurse) in Mogadischu tragen zur Verbesserung der Situation bei. Allerdings ist auch bekannt, dass Frauen eine geringere Aussicht auf eine Vollzeitanstellung haben (vgl. BFA, a.a.O., S. 165 ff., 235). [...]

Die 35-jährige Klägerin hat keine Schule besucht. Sie hat nach ihrer Angabe vor ihrer Ausreise aus Somalia einen Imbissstand betrieben und in Deutschland als Reinigungskraft gearbeitet. Unabhängig von der Frage, ob die Klägerin tatsächlich von ihrem Ehemann und Vater ihrer vier Kinder geschieden ist, ist nicht davon auszugehen, dass sie in der Lage sein wird, bei einer Rückkehr ihren Lebensunterhalt sicherzustellen. Angesichts der angespannten wirtschaftlichen und humanitären Verhältnisse, insbesondere im Hinblick auf die Ernährungssicherheit, ist die Sicherung des Existenzminimums besonders herausfordernd. Dass der Klägerin dies gelingen würde, ist weder zu erwarten, wenn sie - bei Annahme, dass sie noch verheiratet ist - nicht nur sich, sondern neben ihrem Ehemann auch noch ihre vier Kinder versorgen muss, noch wenn sie - bei Annahme, dass sie nicht mehr verheiratet ist - als alleinstehende und damit besonders vulnerable Frau auf sich allein gestellt ist. Dass andere Familienangehörige sie maßgeblich unterstützen könnten, ist nicht ersichtlich. Auch die grundsätzlich zur Verfügung stehenden Start- und Reintegrationshilfen (bspw. REAG/GARP-Programm, Europäischen Reintegrationsprogramm "ERRIN") ändern an dieser Bewertung nichts. Dass die Klägerin auch mit dieser Unterstützung in der Lage sein würde, ihre elementarsten Bedürfnisse über einen absehbaren Zeitraum zu befriedigen, ist insbesondere angesichts der gestiegenen Preise, insbesondere für Nahrungsmittel und Wohnraum, nicht ersichtlich. [...]