OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 26.04.2023 - 10 LA 48/23 - asyl.net: M31487
https://www.asyl.net/rsdb/m31487
Leitsatz:

Abweisung eines Berufungszulassungsantrages des BAMF im Dublinverfahren:

1. Die Umdeutung oder Wahlfeststellung hinsichtlich verschiedener Unzulässigkeitsgründe des § 29 Abs. 1 AsylG begegnet immer wieder rechtlichen Bedenken.

2. Hinsichtlich der durch das BAMF als klärungsbedürftig angesehenen Frage, ob Italien grundsätzlich aufnahmebereit ist, legt das BAMF keine konkreten Erkenntnisse vor, die zu einer anderen Beurteilung als durch das Verwaltungsgericht führen könnten.

(Leitsätze der Redaktion)

Schlagwörter: Dublinverfahren, Italien, Berufungszulassungsantrag, Divergenzrüge, Umdeutung, Wahlfeststellung, Wiederaufnahme, Dublin III-Verordnung,
Normen: AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 1, AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 5, AsylG § 34a Abs. 1 Satz 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2
Auszüge:

[...]

Die Beklagte hat bereits keine sich widersprechenden abstrakten Rechtssätze aufgezeigt. Die von ihr zitierten allgemeinen Ausführungen des Bundesverwaltungsgerichts zur grundsätzlichen Möglichkeit der Umdeutung eines Verwaltungsakts durch die Gerichte bei Vorliegen der Voraussetzungen des § 47 VwVfG stehen nicht in Widerspruch zu der von ihr in Bezug genommenen Auffassung des Verwaltungsgerichts, zwischen § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 AsylG könne eine Umdeutung oder Wahlfeststellung nicht erfolgen. Denn das Verwaltungsgericht ist dabei nicht davon ausgegangen, dass ihm die Umdeutung eines Verwaltungsakts generell verwehrt wäre, sondern hat lediglich das Vorliegen der Voraussetzungen einer Umdeutung konkret bei den Unzulässigkeitsgründen des § 29 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 5 AsylG verneint. [...] Die Beklagte hat aber auch schon nicht dargelegt, dass die Auffassung des Verwaltungsgerichts unzutreffend wäre, zumal eine Umdeutung / Wahlfeststellung zwischen verschiedenen Unzulässigkeitsgründen des § 29 Abs. 1 AsylG immer wieder rechtlichen Bedenken begegnet ist [...].

Da die Beklagte damit bereits hinsichtlich der ersten, die angegriffene Entscheidung selbständig tragenden Begründung des Verwaltungsgerichts einen Zulassungsgrund nicht dargelegt hat, kommt es nicht mehr darauf an, ob sie den Zulassungsgrund der grundsätzlichen Bedeutung in Bezug auf die alternative Begründung der Klageabweisung ausreichend dargelegt hat. Denn ist die vorinstanzliche Entscheidung auf mehrere selbständig tragende Gründe gestützt, so kann die Berufung nur zugelassen werden, wenn hinsichtlich jeder dieser Begründungen ein Berufungszulassungsgrund aufgezeigt wird und vorliegt. [...]

Überdies hätte die Beklagte auch die grundsätzliche Bedeutung der von ihr aufgeworfenen Fragen, „ob es sich bei den derzeitigen Überstellungsaussetzungen nur um vorübergehende die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft und das Aufnahmevermögen Italiens nicht beeinträchtigende Maßnahmen handelt, die zu keiner Verletzung der Art. 3 EMRK und Art. 4 GRCh führen, und ob eine Überstellung des Antragstellers innerhalb eines zumutbaren Zeitrahmens als gesichert angesehen werden kann“ nicht hinreichend dargelegt. [...]

Hinsichtlich der ersten von der Beklagten als klärungsbedürftig erachteten Frage hat sie bereits nicht dargelegt, weshalb sich diese in einem Berufungsverfahren stellen würde, nachdem das Verwaltungsgericht seine Entscheidung nicht auf eine drohende Verletzung der Rechte des Klägers aus Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 GRCh, sondern auf das Nichtvorliegen der Voraussetzungen von §§ 29 Abs. 1 Nr. 1 und 34a AsylG gestützt hat.

Aber auch soweit sich die erste Frage auf die grundsätzliche Aufnahmebereitschaft Italiens für Dublin-Rückkehrer bezieht und sich letztlich beide Fragen gegen die Feststellung des Verwaltungsgerichts richten, dass Italien nach dessen Schreiben vom 5. und 7. Dezember 2022, wonach Überstellungen wegen der gestiegenen Anlandungszahlen derzeit nicht mehr angenommen würden, aktuell tatsächlich nicht zur Wiederaufnahme von rückzuüberstellenden Asylsuchenden bereit sei, genügt ihr Vorbringen nicht den Anforderungen an die Darlegung des Zulassungsgrunds der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache. Denn sie hat nicht unter Auseinandersetzung mit den Ausführungen des Verwaltungsgerichts und den von ihm herangezogenen Erkenntnismitteln dargetan, dass die von ihr aufgeworfenen Tatsachenfragen anders als vom Verwaltungsgericht zu entscheiden sein könnten. Vielmehr führt sie in weiten Teilen lediglich ihre eigenen Schlussfolgerungen sowie die Auffassungen anderer Verwaltungsgerichte an. Konkrete Erkenntnisse, die zu einer anderen Beurteilung als durch das Verwaltungsgericht führen könnten, legt sie dabei nicht dar (vgl. auch OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.3.2023 – 11 A 252/23.A –, juris Rn. 23). Soweit sie für ihre Auffassung, dass es sich bei der derzeitigen Nichtannahme von Überstellungen lediglich um ein vorübergehendes Hindernis handele, den Grundsatz gegenseitigen Vertrauens anführt, ist dieser Grundsatz bereits durch die generelle Ablehnung der Annahme von rückzuüberstellenden Asylsuchenden in Widerspruch zur Dublin III-VO insoweit entkräftet. Für ihre These, dass die Überstellungen innerhalb der im Dublinsystem festgelegten Fristen mit großer Wahrscheinlichkeit durchgeführt werden würden, führt sie weder hinreichend konkrete Anhaltspunkte an, noch sind solche sonst gegenwärtig ersichtlich. Auch dass Italien in den vergangenen Jahren seine Aufnahmekapazität erhöht hat, lässt allein nicht den Schluss zu, dass in absehbarer Zeit Dublin-Rückkehrer wieder aufgenommen werden, zumal die Rückübernahmen nunmehr bereits mehr als vier Monate ausgesetzt sind (vgl. auch bereits OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 16.3.2023 – 11 A 252/23.A –, juris Rn. 31) und aktuell eher davon ausgegangen wird, dass auch weiterhin Rückübernahmen nicht erfolgen werden (https://www.nzz.ch/schweiz/italien-nimmt-bis-mindestens-anfang-mai-keine-fluechtlinge-zurueck-ld.1733446). [...]