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VG Minden

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Zitieren als:
VG Minden, Urteil vom 22.02.2023 - 1 K 4557/21.A - asyl.net: M31451
https://www.asyl.net/rsdb/m31451
Leitsatz:

Kein Zweitantrag nach Einstellung eines Asylverfahrens in Schweden und Dublin-Bescheid in anderem Mitgliedstaat:

"1. In Schweden wegen stillschweigender Antragsrücknahme oder Nichtbetreiben des Verfahrens eingestellte Asylverfahren sind keine abgeschlossenen Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG, da sie in Schwe­den ohne zeitliche Beschränkung weiterbetrieben werden können.

2. Hat ein Mitgliedstaat Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 [wonach Mitgliedstaaten eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben können, nach deren Ablauf das Verfahren nicht wieder eröffnet werden darf] nicht umgesetzt, finden die darin vorgesehenen Einschränkungen weder unmittelbare Anwendung in diesem Mitgliedstaat noch sind sie bei der Vorfrage des § 71a Abs. 1 AsylG zu berücksichtigen, ob ein Asylverfahren in diesem Mitgliedstaat abgeschlossen ist.

3. Verfahren, die durch bestandskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-Verfahren beendet wurden, sind keine Erstverfahren im Sinne der §§ 71 Abs. 1, 71a Abs. 1 AsylG."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Schweden, Zweitantrag, Asylfolgeantrag, Dublinverfahren, Asylverfahrensrichtlinie,
Normen: AsylG § 71a Abs. 1, RL 2013/32/EU Art. 28 Abs. 2,
Auszüge:

[...]

I. Die Ablehnung des Asylantrags vom ... als unzulässig kann nicht auf §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG gestützt werden. [...]

Die Tatbestandsvoraussetzungen des § 71a Abs. 1 AsylG liegen mangels eines "Abschlusses eines Asylverfahrens" hier nicht vor. Daher bedarf die vom Gerichtshof der Europäischen Union (vgl. Urteil vom 20. Mai 2021 - C 8/20 -, juris Rn. 40) erneut offen gelassene Frage, ob das mitgliedstaatsübergreifende Konzept des Folgeantrags mit dem Unionsrecht vereinbar ist, keiner Erörterung. [...]

1b. Ein im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG abgeschlossenes Verfahren in Schweden lag zum maßgeblichen Zeitpunkt nicht vor. Der Kläger hatte noch die Möglichkeit, das am 1. April 2019 eingestellte Verfahren ohne inhaltliche Beschränkung seines Vortrags wie ein Erstverfahren weiterbetreiben zu können.

Ein erfolgloser Abschluss des in einem anderen Mitgliedstaat betriebenen Asylverfahrens im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG setzt voraus, dass der Asylantrag entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist. Eine Einstellung ist nicht in diesem Sinne endgültig, wenn das Verfahren noch wiedereröffnet werden kann. Ob dies möglich ist, ist nach der Rechtslage des Staates zu beurteilen, in dem das Asylverfahren durchgeführt worden ist (vgl. ausführlich BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, juris Rn. 29 ff.). [...]

aa. Das Gericht ist aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse überzeugt, dass wegen stillschweigender Antragsrücknahme oder Nichtbetreibens des Verfahrens eingestellte Asylverfahren nach schwedischem Recht ohne zeitliche Begrenzung weiterbetrieben werden können. [...]

Daraus ergibt sich eindeutig, dass Schweden Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 nicht in nationales Recht umgesetzt hat. Nach dieser Vorschrift können die Mitgliedstaaten u.a. eine Frist von mindestens neun Monaten vorschreiben, nach deren Ablauf ein nach Art. 28 Abs. 1 RL 2013/32 eingestelltes Verfahren nicht wieder eröffnet werden darf beziehungsweise der neue Antrag als Folgeantrag behandelt und nach Maßgabe der Art. 40 f. RL 2013/32 geprüft werden kann. Mangels einer solchen Einschränkung des aus Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2013/32 folgenden Rechts, ein eingestelltes Verfahren weiterbetreiben zu können, können Asylbewerber in Schweden das eingestellte Asylverfahren ohne zeitliche Begrenzungen weiterbetreiben. [...]

bb. Soweit das Bundesamt allerdings meint, die 9-monatige Frist aus Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 sei mangels einer Umsetzung in das schwedische Recht dort unmittelbar anwendbar, vermag dies nicht zu überzeugen. Unabhängig davon, dass dies nach den vorliegenden Erkenntnissen nicht ansatzweise der behördlichen Praxis in Schweden entspricht, ist die vom Bundesamt aufgestellte These einer unmittelbaren Anwendbarkeit auch rechtlich nicht haltbar. [...]

Ausgehend davon kann Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 schon deswegen keine unmittelbare Wirkung entfalten, da dies zu Lasten des Klägers gehen würde. Entgegen der Auffassung des Bundesamts hat ein Asylbewerber aus der Richtlinie nicht nur ein subjektives Recht darauf, ein eingestelltes Asylverfahren innerhalb von neun Monaten weiterbetreiben zu können. Vielmehr ergibt sich aus dem Wortlaut und der Systematik von Art. 28 Abs. 2 RL 2013/32, dass grundsätzlich ein unbeschränktes Recht besteht, ein eingestelltes Asylverfahren weiterzubetreiben (Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 1 RL 2013/32). Dieses Recht kann nach Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 zwar unter bestimmten Bedingungen eingeschränkt werden. Unter Berücksichtigung dessen, dass Richtlinien im Verhältnis zwischen Staat und Bürger nicht zu Lasten des Einzelnen Anwendung finden, kann sich ein Mitgliedstaat allerdings ohne einen entsprechenden Umsetzungsakt nicht auf Einschränkungen im Sinne von Art. 28 Abs. 2 Unterabs. 2 RL 2013/32 berufen. [...]

cc. Soweit das Bundesamt ferner geltend macht, die Bundesrepublik dürfe – im mitgliedstaatsübergreifenden Kontext – eine Frist von neun Monaten bei der Prüfung des § 71a AsylG ansetzen, weil Schweden die Richtlinie nicht in nationales Recht umgesetzt habe, vermag dies ebenfalls nicht zu überzeugen. [...]

2. Eine Unzulässigkeit des Asylantrags des Klägers nach §§ 29 Abs. 1 Nr. 5, 71a Abs. 1 AsylG lässt sich auch nicht darauf stützen, dass sein Asylantrag in den Niederlanden im Dublin-Verfahren abgelehnt wurde. aa. Dies folgt schon daraus, dass dieses Asylverfahren kein Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG ist. Ein solches setzt voraus, dass dem Asylbewerber vor der Ablehnung des Asylantrags die Gelegenheit gegeben wurde, seine Asylgründe im Rahmen einer uneingeschränkten sachlichen Erstprüfung vorzutragen. Daran fehlt es, wenn – wie hier – bislang nur bestandskräftige Zuständigkeitsentscheidungen im Dublin-System getroffen wurden [...].

bb. Wäre – entgegen der hier vertretenen Auffassung – das Asylverfahren in den Niederlanden als Erstverfahren im Sinne von § 71a Abs. 1 AsylG zu berücksichtigen, lägen jedenfalls die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 und 2 VwVfG vor, weil die Bundesrepublik nachträglich für den Kläger zuständig geworden ist.

In der Konstellation, in der sowohl das Dublin-Verfahren als auch das weitere Asylverfahren in der Bundesrepublik durchgeführt werden, ist anerkannt, dass nach Zuständigkeitsübergang jedenfalls die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vorliegen, weil sich die der Unzulässigkeitsentscheidung des Bundesamts zugrundeliegende Sach- und Rechtslage mit dem Ablauf der Überstellungsfrist und des damit einhergehenden Zuständigkeitsübergangs nachträglich zugunsten des Asylbewerbers geändert hat [...].

Dies ist aufgrund des Sinn und Zwecks des § 71a Abs. 1 AsylG, den Zweitantrag dem Folgeantrag und damit die asylrechtliche Entscheidung eines Drittstaats einer asylrechtlichen Entscheidung des Bundesamts gleichzustellen (vgl. BT-Drs. 12/4450, S. 27; BVerwG, Urteil vom 14. Dezember 2016 - 1 C 4.16 -, Rn. 30), auf die vorliegende Konstellation, in der die Unzulässigkeitsentscheidung von einem anderen Mitgliedstaat getroffen wurde und die Bundesrepublik nach Zuständigkeitsübergang einen weiteren Asylantrag bearbeitet, zu übertragen. [...]