VG Aachen

Merkliste
Zitieren als:
VG Aachen, Urteil vom 15.12.2022 - 5 K 507/19.A - asyl.net: M31445
https://www.asyl.net/rsdb/m31445
Leitsatz:

Geschiedener, alleinstehender Frau mit nichtehelichem Kind droht im Iran ernsthafter Schaden:

Einer alleinstehenden, geschiedenen Frau mit einem nicht ehelichen Kleinkind, die in ihrer Einstellung zu Ehe und Familie und ihrem Auftreten erkennbar einen "westlichen" Lebensstil pflegt, droht bei Rückkehr in den Iran diskriminierende, übergriffige und drangsalierenden Behandlung durch staatliche und nicht-staatliche Akteure. Diese Behandlung ist geeignet, Gefühle von Furcht und Minderwertigkeit zu verursachen und zielt darauf ab, die Klägerin zu erniedrigen oder zu entwürdigen und die Berechtigung ihrer Lebensweise abzusprechen, sodass ihr ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 Abs. 1 AsylG droht und der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen ist.

(Leitsätze der Redaktion; siehe auch: VG Hamburg, Urteil vom 20.07.2021 - 10 A 5156/18 - asyl.net: M30064)

Schlagwörter: Iran, Frauen, alleinstehende Frauen, nichteheliches Kind, Familie, westlicher Lebensstil, Verwestlichung
Normen: AsylG § 4 Abs. 1 S. 1, AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2, EMRK Art. 3,
Auszüge:

[...]

Denn der Klägerin droht ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG deshalb, weil ihr im hier konkreten Einzelfall als geschiedene, alleinstehende Frau mit zwei Kindern, von denen das jüngere außerhalb einer Ehe geboren wurde, eine unmenschliche und erniedrigende Behandlung durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht.

Gemäß den der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnissen sind Frauen im Iran nach wie vor in rechtlicher, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Hinsicht vielfältigen Diskriminierungen unterworfen und es gibt keine Gesetze zur Verhinderung und Bestrafung geschlechtsspezifischer Gewalt. [...]

Daneben sind Frauen im Iran moralisch-sittlichen Traditionen unterworfen, welche die Frau dem Mann unterstellen. Nach diesen traditionellen Konzepten hat die Frau Sitte und Anstand der Familie zu bewahren, um so die Ehre der Familie nicht zu gefährden. Dabei kann beispielsweise schon das Verlassen des Hauses oder der Umgang mit nichtverwandten Männern Anlass zur Beschuldigung unmoralischen Verhaltens geben. [...]

Das iranische Gesetz verbietet sexuelle Handlungen zwischen nicht verheirateten Personen explizit. Außerehelicher Geschlechtsverkehr (zina) wird als Verstoß gegen die "Rechtsansprüche Gottes" (hadd) gewertet und entsprechend bestraft. Für verheiratete Personen, die Ehebruch begehen, ist die Todesstrafe durch Steinigung vorgesehen. Für unverheiratete Personen ist das Strafmaß auf 100 Peitschenhiebe festgelegt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 10. April 2015, Iran: Gefährdungslage bei Rückkehr in den Iran mit einem unehelichen Kind, S. 1).

Im Iran ist es darüber hinaus grundsätzlich nicht üblich, dass Frauen alleine wohnen. Frauen, die dies tun, empfinden Druck von behördlicher oder familiärer Seite. Auch modern wirkende Iraner denken in diesem Bereich häufig noch sehr konservativ. Alleinlebenden Frauen wird "Schlüpfrigkeit" oder gar Prostitution vorgeworfen. Letzteres kann für sie sehr gefährlich sein. Ohne die Einwilligung der Familie ist ein alleinstehendes Leben für Frauen fast undenkbar. Es kann nicht ausgeschlossen werden, dass es dann zu massiven Übergriffen durch Familienangehörige kommt, die Angst um die "Familienehre" oder ihren Ruf haben. Auf dem Land scheint es fast unmöglich, dass Frauen alleine wohnen. [...]

Bringen Frauen aus Sicht der Männer Schande über die Familie, so kommt es nach wie vor zu Tötungen, die von dem Ehemann, Vater, Bruder oder einem sonstigen Verwandten des Opfers vollzogen werden. Typischerweise wird diesen bei vor- und außerehelichem Geschlechtsverkehr, Vergewaltigung, der Weigerung gegen eine arrangierte Ehe, der eigenen Wahl des Ehemannes oder einem als zu freizügig empfundenen Kleidungs- oder Lebensstil eine Verletzung der Familienehre vorgeworfen [...].

Vor dem Hintergrund der dargestellten Erkenntnisse scheint die Furcht der Klägerin vor einer unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung bei einer Rückkehr in den Iran begründet. Der Klägerin als alleinstehender, geschiedener Frau mit einem unehelichen Kleinkind, die aufgrund ihrer in der mündlichen Verhandlung geäußerten Einstellung zu Ehe und Familie und ihres Auftretens erkennbar einen "westlichen" Lebensstil pflegt, droht bei einer Rückkehr in den Iran mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit sowohl von staatlichen Stellen als auch von Seiten der Zivilgesellschaft in alltäglichen Situationen einer diskriminierenden, übergriffigen und sie drangsalierenden Behandlung ausgesetzt zu sein, die geeignet ist, Gefühle von Furcht und Minderwertigkeit zu verursachen und darauf abzielt, die Klägerin zu erniedrigen oder zu entwürdigen und ihr die Berechtigung ihrer Lebensweise abzusprechen.

Dabei ist nicht davon auszugehen, dass der Vater der im Jahr 2022 geborenen Tochter der Klägerin mit dieser und ihrer weiteren Tochter gemeinsam in den Iran zurückkehren und die Familie vor Übergriffen und Stigmatisierung schützen könnte und für diese sorgen würde. [...]

Die Klägerin und der Vater ihrer jüngeren Tochter leben bisher nicht in einem gemeinsamen Haushalt und hatten jedenfalls im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung keine konkreten Pläne, in naher Zukunft einen solchen zu führen. [...]

Die Klägerin kann bei einer Rückkehr in den Iran auch nicht auf den Schutz oder die Unterstützung durch Familienangehörige vertrauen. Nach ihren Angaben in der mündlichen Verhandlung, hat sie lediglich ihrer Schwester, die insofern eine offene Einstellung pflegt, von dem zweiten unehelichen Kind erzählt. Dem Rest der Familie habe sie nicht Bescheid gegeben, weil die Familie dies nicht akzeptieren würde.

Die Klägerin kann vor diesem Hintergrund auf Unterstützung durch ihre Familie nicht vertrauen. Angesichts der schwachen Stellung von Frauen in der iranischen Gesellschaft kann nicht unterstellt werden, dass die Klägerin allein aufgrund einer angenommenen Unterstützung durch ihre Schwester vor zu erwartenden Übergriffen ausreichend geschützt werden kann. [...]

Für die Klägerin besteht auch keine Möglichkeit, internen Schutz nach § 3e AsylG in Anspruch zu nehmen. Die dargestellten Defizite bestehen landesweit. [...]