OVG Niedersachsen

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Zitieren als:
OVG Niedersachsen, Beschluss vom 14.04.2023 - 10 LA 27/23 - asyl.net: M31434
https://www.asyl.net/rsdb/m31434
Leitsatz:

Zu den Darlegungserfordernissen einer Divergenzrüge bei neuen Erkenntnismitteln:

"Stützt sich das Verwaltungsgericht in seiner Entscheidung (auch) auf neuere Umstände, hat der Zulassungsantragsteller im Rahmen der Darlegung des Zulassungsgrunds der Divergenz unter Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht angeführten neueren Quellen und Erkenntnissen aufzuzeigen, dass sich die der Entscheidung des Divergenzgerichts zugrundeliegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich geändert haben."

(Amtliche Leitsätze)

Schlagwörter: Divergenzrüge, Berufungszulassungsantrag, Bulgarien, internationaler Schutz in EU-Staat, Erkenntnismittel, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung,
Normen: AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 2, AsylG § 78 Abs. 3 Nr. 1, GR-Charta Art. 4, EMRK Art. 3
Auszüge:

[...]

Nach § 78 Abs. 3 Nr. 2 AsylG ist die Berufung zuzulassen, wenn das angefochtene Urteil von einer Entscheidung des Oberverwaltungsgerichts, des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht. Eine solche Abweichung liegt vor, wenn sich das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Rechtsvorschrift mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz zu einem in der herangezogenen Entscheidung eines der genannten Divergenzgerichte aufgestellten ebensolchen Rechtssatz in Widerspruch gesetzt hat. [...]

Bei Tatsachenfragen kommt eine Divergenzzulassung [...] dann nicht (mehr) in Betracht, wenn sich seit der angeführten obergerichtlichen Grundsatzentscheidung, die einen bestimmten Tatsachensatz aufgestellt hat, dessen Verbindlichkeit aber immer unter dem Vorbehalt einer Änderung der Sachlage steht, die tatsächlichen Verhältnisse nicht nur unwesentlich verändert haben [...]. Insbesondere im Bereich von Tatsachenfragen ist zu berücksichtigen, dass die Grundsätzlichkeit einer Aussage Geltung nur für die ihr zugrunde gelegte tatsächliche Erkenntnislage beansprucht [...].

Nach diesen Maßgaben hat die Beklagte den Zulassungsgrund der Divergenz nicht hinreichend dargelegt. Zwar hat sie Tatsachensätze des Senats aus seiner Entscheidung vom 7. Dezember 2021 und des Verwaltungsgerichts in dem angegriffenen Urteil gegenübergestellt, die sich im Ergebnis widersprechen. Sie hat aber nicht dargelegt, dass diese Tatsachengrundsätze trotz der vom Verwaltungsgericht herangezogenen neueren Erkenntnismittel auf nicht wesentlich geänderten Umständen beruhen.

Das Verwaltungsgericht hat seine von der Senatsentscheidung vom 7. Dezember 2021 abweichende Schlussfolgerung, nach Bulgarien rückkehrenden Schutzberechtigten drohe dort eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung, maßgeblich darauf gestützt, dass diese in Bulgarien kein Obdach finden könnten und es ihnen auch nicht möglich sei, ihr Existenzminimum selbst zu erwirtschaften. Bei der Beurteilung der zum Zeitpunkt seiner Entscheidung in Bulgarien vorherrschenden Umstände hat es dabei maßgeblich auch Erkenntnisse aus Quellen berücksichtigt, die zum Zeitpunkt der zur Begründung der Divergenz angeführten Entscheidung des Senats noch nicht vorgelegen haben [...].

Damit hat das Verwaltungsgericht für seine Schlussfolgerung, nach Bulgarien rückkehrenden Schutzberechtigten drohe eine Verletzung ihrer Rechte aus Art. 4 GRC, nicht (nur) deren dortige Lebensbedingungen zu bzw. vor dem Zeitpunkt der Entscheidung des Senats vom 7. Dezember 2021 beurteilt, sondern (auch) die tatsächlichen Verhältnisse zum Zeitpunkt der angegriffenen Entscheidung am 15. Februar 2023. Auf diese zusätzlichen, gegenüber der Senatsentscheidung neueren tatsächlichen Verhältnisse ist die Beklagte mit ihrer Zulassungsbegründung nicht hinreichend eingegangen, insbesondere hat sie nicht unter Auseinandersetzung mit den vom Verwaltungsgericht angeführten neueren Quellen und Erkenntnissen aufgezeigt, dass sich die der Entscheidung des Senats zugrunde liegenden tatsächlichen Verhältnisse nicht wesentlich geändert haben und diese weiterhin Geltung beanspruchen, so dass in einem Berufungsverfahren die Tatsachenfrage einer drohenden unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung nicht einer völlig neuen Betrachtung unter Berücksichtigung der neueren Erkenntnismittel unterzogen werden müsste. Damit fehlt es letztlich an der Darlegung, dass das Verwaltungsgericht bei den von der Beklagten zur Begründung der Divergenz angeführten Tatsachensätzen - trotz der Berücksichtigung neuerer Erkenntnismittel - von den im Wesentlichen gleichen Tatsachen wie der Senat ausgegangen ist [...].