VGH Bayern

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Zitieren als:
VGH Bayern, Beschluss vom 06.03.2023 - 24 B 23.30101 (Asylmagazin 6/2023, S. 230) - asyl.net: M31421
https://www.asyl.net/rsdb/m31421
Leitsatz:

Zurückverweisung an Verwaltungsgericht wegen abweichender Beurteilung der Lage in Äthiopien:

1. Beurteilt ein Oberverwaltungsgericht/Verwaltungsgerichtshof die allgemeine asyl- und abschiebungsrelevante Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat anders als das Verwaltungsgericht und ist diese Beurteilung entscheidungserheblich, kann das Verfahren gemäß dem neu geschaffenen § 79 Abs. 2 AsylG an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden, wenn auf Grundlage der Auffassung des Oberverwaltungsgerichts eine umfangreiche oder aufwändige Beweisaufnahme notwendig wäre. Das Verwaltungsgericht ist dann an die rechtliche und tatsächliche Auffassung des Oberverwaltungsgerichts gebunden.

2. Der VGH Bayern beurteilt die allgemeine Situation hinsichtlich exilpolitischer Betätigung bezüglich Äthiopiens anders als das VG Würzburg. Da letzteres in zahlreichen Fällen ohne mündliche Verhandlung eine politische Verfolgung wegen exilpolitischer Betätigung bejaht hat, ohne weitere individuelle Gründe für die Gewährung internationalen Schutzes zu prüfen, müsste der VGH in vielen Berufungsverfahren jeweils eine Einzelfallprüfung vornehmen. Solche Belastungen der Oberverwaltungsgerichte sollen durch den neu geschaffenen § 79 Abs. 2 AsylG verhindert werden. 

(Leitsätze der Redaktion; vorhergehend: VG Würzburg, Urteil vom 09.05.2018 - W 3 K 18.30299 - gesetze-bayern.de)

Schlagwörter: Asylverfahren, Zurückverweisung, Äthiopien, Exilpolitik, Gruppenverfolgung, Berufung,
Normen: AsylG § 79 Abs. 2 Nr. 2,
Auszüge:

[...]

1 Das Verfahren kann nach § 79 Abs. 2 AsylG n.F. an das Verwaltungsgericht zurückverwiesen werden, da die dort normierten Voraussetzungen für eine Zurückverweisung vorliegen.

2 Der neu gefasste § 79 Abs. 2 AsylG ist ausweislich der Gesetzesbegründung vom 8. November 2022 für die Fälle geschaffen worden, in denen das Oberverwaltungsgericht die allgemeine asyl-, abschiebungs- oder überstellungsrelevante Lage in einem Herkunfts- oder Zielstaat anders als das Verwaltungsgericht beurteilt und die Schutzgewährung durch das Verwaltungsgericht wesentlich von dieser Beurteilung abhing. Dies gilt insbesondere dann, wenn das Oberverwaltungsgericht entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts eine Gruppenverfolgung verneint, sodass eine individuelle Verfolgung der Kläger zu prüfen ist und das Verwaltungsgericht in einer Vielzahl von Fällen eine Gruppenverfolgung bejaht und daher ‒ aus seiner Sicht folgerichtig ‒ auf eine Prüfung der individuellen Umstände des Einzelfalls verzichtet hat. Das Oberverwaltungsgericht müsste dann in der entsprechenden Vielzahl von Fällen diese individuelle Prüfung nachholen, sodass es einer erheblichen Belastung ausgesetzt wird, mit der entsprechende Verfahrensverzögerungen einhergehen (vgl. BT-Drs. 20/4327, S. 43).

3 Eine solche Situation liegt hier vor. Das Verwaltungsgericht Würzburg hat in zahlreichen Fällen ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung eine politische Verfolgung wegen exilpolitischer Betätigung bejaht und nicht geprüft, ob andere Gründe für die Gewährung von Flüchtlingsschutz oder von subsidiärem Schutz oder der Feststellung von Abschiebungshindernissen vorliegen. Der 8. Senat des Verwaltungsgerichtshofs hat demgegenüber die allgemeine Situation hinsichtlich der exilpolitischen Betätigung mit seinen Urteilen vom 13. Februar 2019 (Az. 8 B 18.30261, 8 B 18.30257 und 8 B 17.31645 zur TBOJ/UOSG), vom 12. März 2019 (Az. 8 B 18.30252 und 8 B 18.30274 zu EPCOU, EPPFG und EDGM) und vom 12. Dezember 2019 (Az. 8 B 19.31004) anders beurteilt. Der 24. Senat schließt sich insoweit der Auffassung des 8. Senats an (s. auch BayVGH, B.v. 17.10.2021 – 23 ZB 19.33385 – juris).

4 Die noch anhängigen Berufungsverfahren müssten daher mündlich verhandelt werden. Die hierfür notwendige Prüfung der aktuellen allgemeinen Lage in Äthiopien sowie der individuellen Situation der jeweiligen Kläger wäre mit umfassenden Beweiserhebungen verbunden, die zu erheblichen Verzögerungen in den anderen Streitsachen führen würden. [...]